Predigtnachlese – Ulrich Engel

Ulrich Engel OP

Philosophische Predigt: „God made himself nothing“

1. Oktober 20023 , St. Canisius, Berlin-Charlottenburg

Liebe Gottesdienstbesucherinnen und -besucher,

über Jahrtausende hinweg stand Gott im Mittelpunkt der symbolischen Ordnung der Dinge. Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Kirche und Saeculum strukturierten diese Ordnung. Spätestens mit der Aufklärung ist sie unwiderruflich zusammengebrochen.

War die symbolische Ordnung bis dahin „auf ein transzendentes ‚Du‘ ausgerichtet, welches mit dem Terminus ‚Himmel‘ auch eine Lokalisierung und ein Zentrum fand, so begann sie mit dem Verlust des göttlichen Palastes um eine Leere zu kreisen, die alle Sinnpotentiale zu verschlingen droht.“[1] Wir haben uns angewöhnt, diese Entwicklung „Säkularisierung“ zu nennen.

Die nunmehr leer gewordene Mitte hat dem Abendland massive Traumata beschert. Jean Paul entfaltet die Verlusterfahrung literarisch eindrucksvoll, als er die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“[2], schrieb. Friedrich Nietzsche (Stichwort: Tod Gottes[3]) und Michel Foucault (Stichwort: Tod des Subjekts[4]) haben sie zum Ausgangspunkt ihres Denkens überhaupt gemacht.

Szenenwechsel: 2018 veröffentlichte ein Konsortium mehrerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Studie zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Diese nach den beteiligten Institutsstandorten Mannheim, Heidelberg und Gießen „MHG-Studie“ genannte Untersuchung zeigt deutlich, dass „Klerikalismus“[5] eine „wichtige Ursache und spezifisches Strukturmerkmal“[6] des massenhaften Missbrauchs im Raum der katholischen Kirche darstellt.[7]

Klerikalismus definiert sich durch Ungleichheitsbeziehungen: geweihte Personen dominieren andere Menschen, da ihnen qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position zugeschrieben wird bzw. die Amtsträger sich selbst in dieser dominanten Position verorten. „Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz.“[8]

Wir kennen in der Kirche viele solcher Gehorsams- und Unterwerfungsrelationen. Sie heißen Pastor/Gläubige, Hirt/Schafe, Beichtväter/Beichtkinder, Kleriker/Laie, Mann/Frau, Hetero/queer usw. usf.

Und weil viele Menschen diese Art der Pastoralmacht nicht mehr aushalten, verlassen sie ihre Kirche, die schon längst nicht mehr ihre ist, in Scharen: weil sie selbst missbraucht worden sind oder weil sie nicht in solchen Abhängigkeitsverhältnissen leben wollen, weil sie die jahrzehntelange Vertuschung des Missbrauchs oder die fromme Überhöhung des Klerikalismus als angeblich gottgewollt satt haben, weil sie vergeblich Menschenrechte auch innerhalb der Kirche einfordern, weil die Kirche sie mit ihrer antiquierten Sprache nicht mehr erreicht.

Liebe Gemeinde,

beides zusammen – rasant sich beschleunigende gesellschaftliche Säkularisierungsprozesse und der hausgemachte Skandal um sexualisierten und geistlichen Machtmissbrauch samt Vertuschung führt dazu, dass unsere Kirche implodiert. Sie löst sich auf.

Zerfällt auch ihre Botschaft in tausend Einzelteile? Lange Zeit stabilisierende Identitätsangebote tragen nicht mehr. Kirchliche Strukturen erodieren. Löst sich damit einhergehend gerade auch die Bedingung der Möglichkeit der Reich Gottes-Botschaft auf? Vielleicht. Auf jeden Fall zerbröseln tradierte ekklesiale Machtansprüche. Immer weniger Gläubige schreiben den kirchlichen Hierarchen die Autorität zu, die es bräuchte, um von oben herab autoritär regieren zu können. Die Kirche, diese Kirche, erodiert. Und das ist vielleicht gut so![9]

„Erodieren“ ist in der deutschen Sprache ein intransitives Zeitwort. Es bezeichnet einen Vorgang, bei dem durch den Einfluss des Wetters etwas zerstört wird, zerfällt, zerbröckelt – kurz: sich auflöst. Erosion ist der Fachbegriff. Ein alter Baumstamm verwittert genauso wie ganze Felsformationen. Sie fallen nach und nach auseinander, indem die Einwirkungen der in Luft und Wasser enthaltenen Säuren einen chemischen Zersetzungsprozess bewirken. So beschreibt die „Oekonomische Encyklopädie […] der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, […], 1773–1858“ in Band 219 den biochemischen Vorgang der Erosion.[10] Man könnte auch sagen: Es geht um den Prozess des Sterbens – wozu ironischerweise passt, dass der langjährige Herausgeber eben jener „Oekonomischen Encyklopädie“ genau da starb, als er seinen Artikel zum Begriff „Leiche“ verfasste.[11]

Liebe Gemeinde,

die Lesung aus dem Philipperbrief (Phil 2,1–11), die wir eben gehört haben, thematisiert auch einen Auflösungsprozess. Allerdings geht es im Narrativ des Philipperhymnus nicht um die Erosion kirchlicher Strukturen, sondern ungleich dramatischer um die Erosion Gottes selbst. Verhandelt wird dieses ungeheuerliche Geschehen unter dem Begriff der Entäußerung, griechisch: der κένωσις. Was meint: Gott erniedrigt sich selbst. Die englische Bibelausgabe „New International Version“ (NIV) übersetzt radikaler: „he made himself nothing“ – „Er machte sich selbst zu nichts.“

Eduard Schweizer hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass es in der κένωσις nicht bloß um einen Wandel der äußeren Erscheinungsform Gottes geht – etwa im Sinne einer Verkleidung –, sondern dass der Philipperhymnus nicht weniger als „den ‚Status‘, die Position, die Stellung“[12] Gottes selbst in Frage stellt – einschließlich seiner „Macht und Herrlichkeit“[13].

Meine Frage lautet nun: Was wäre, wenn sich unsere kirchlichen Praktiken wie auch unsere sich daran anschließenden ekklesiologischen Selbstbilder und ihre Sozialformen von solch einer kenotischen Theologie leiten ließen?[14] Paulus selbst schon verband die göttliche Selbstentäußerung mit ethischen Mahnungen an die Gemeinde (vgl. Phil 2,12–18).[15]

Eine Glaubensgemeinschaft, die einem Gott nachfolgt, der sich hinsichtlich seiner eigenen Macht autodekonstruiert hat, so mein Gedanke, eine solche Kirchengemeinschaft muss auch ihr eigenes Machtgehabe massiv beschränken. Die Diskurse und Praktiken einer wahrhaftig kenotischen Kirche würden auf alle direkte Repräsentation der göttlichen Macht verzichten. Freiwillig!

Statt eine Kirche, deren männlich-dogmatischer Testosteronspiegel vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, würde eine dekonstruierte Kirche den eigenen Bedeutungsverlust und das Prekäre ihrer Position akzeptieren – und damit würde sie dann vielen „Menschen gleich“ (Phil 2,7).[16]

Liebe Gemeinde,

Erosion ist nicht bloß Zersetzung und Auflösung. Im Mineralien-, Fossilien- und Geologie-Atlas habe ich gelesen, dass Erosion definiert ist als „die Abtragung, der Transport und die Verlagerung von Gesteinen durch Fließgewässer, durch Meeresbrandungen, durch Niederschläge und durch Gletscher […] Bei der Erosion findet […] also ein Transport statt.“[17] Material verschwindet von Ort A und bewegt sich an einen Ort B.

Meine Frage angesichts der gegenwärtigen Auflösungsprozesse in unserer Kirche lautet dann: Wohin ist sie erodiert, die göttliche Macht?

Wenn denn das Bild aus der Geologie stimmt, dass es nicht primär um ein Verschwinden, sondern um Verlagerungen geht, dann müssten doch kleine und kleinste Partikel der Gottesmacht irgendwo in den Ritzen unseren gesellschaftlichen und privaten Lebenszusammenhängen zu finden sein. Das ist übrigens auch die Pointe des Paulus in seinem Schreiben an die Gemeinde in Philippi: „alle[n] im Himmel, auf der Erde und unter der Erde“ (v. 10) wird der Name Jesu zugänglich (vgl. v. 9f.). „Allen“ – niemand und kein Ort ist von vornherein ausgeschlossen.

In diesem Sinne lade ich Sie ein: Fixieren Sie sich nicht allein auf die Auflösung althergebrachter Kirchenstrukturen. Weder lustvoll, noch angstbesetzt. Machen Sie sich statt dessen anderswo auf die Suche: nach Gottespartikeln inmitten unserer vielgestaltig diversen Welt, an anderen Orten als den gewohnten, auch jenseits der Institution.

Machen wir uns auf. Am besten mit anderen zusammen. Im Geist dessen, der sich selbst zu nichts machte.

Ich habe Hoffnung, dass wir fündig werden könnten.

Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Prof. P. Dr. Ulrich Engel OP, * 1961 in Düsseldorf, 1984 Eintritt in den Dominikanerorden, z.Zt. Gründungsbeauftragter und Prof. für Philosophisch-theologische Grenzfragen am Campus für Theologie und Spiritualität Berlin (www.cts-berlin.org) und Direktor des Institut M.-Dominique Chenu Berlin (www.institut-chenu.eu).


[1]     Kurt Appel, Vom Preis des Gebetes, in: ders. (Hrsg.), Preis der Sterblichkeit. Christentum und neuer Humanismus (Quaestiones disputatae Bd. 271), Freiburg/Br. 2015, 186–228, hier 187.

[2]     Jean Paul, Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, in: ders., Dichtungen, Leipzig 1940, 395–401.

[3]     Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München Neuausgabe 1999, Bd. 3, 343–651, hier 480–482.

[4]     Vgl. Michel Foucault, Die Geburt einer Welt. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. I 1954–1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt/M. 32014, 999–1003, hier 1002.

[5]     Harald Dreßing u. a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim – Heidelberg – Gießen 2018, in: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf [Zugriff: 28.09.2023]. Im Folgenden zitiert als „MHG-Studie“.

[6]     MHG-Studie, 13.

[7]     Meine hier vorgelegten Reflexionen beziehen sich ausschließlich auf die katholische Kirche. Zum Folgenden vgl. auch Ulrich Engel, Strukturell missbrauchsanfällig… Das Institut der Beichte zwischen pastoraler Seelenführungstechnik und klerikal(istisch)em Kontrollinstrument – eine theologische Reflexion im Anschluss an Michel Foucault, in: Katharina Karl / Harald Weber (Hrsg.), Missbrauch und Beichte. Erfahrungen und Perspektiven aus Praxis und Wissenschaft, Würzburg 2021, 93–136.

[8]     MHG-Studie, 13.

[9]     Vgl. Magnus Striet, Der alte Blick von oben herab, in: Christ & Welt v. 01.12.2022 (Nr. 49), 1.

[10]   Art. „Verwittern“, in: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, in alphabethischer Ordnung, 1773–1858, Bd. 219 = https://www.mineralienatlas.de/lexikon/index.php/Geologisches%20Portrait/Verwitterung%20und%20Erosion [Zugriff: 28.09.2023].

[11]   Krünitz konnte bis zu seinem Tod 1796 72 Bände der Enzyklopädie fertigstellen. Das ist ein fast ein Drittel der insges. 242 Bände, um deren Erarbeitung sich in den folgenden fast 60 Jahren sechs weitere Autoren bemühten.

[12]   Eduard Schweizer, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, Zürich 1955, 54.

[13]   Otfried Hofius, Der Christushymnus 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Bd. 17), Göttingen 21991, 57.

[14]   Vgl. Ulrich Kühn, Deus absconditus – ecclesia abscondita, in: Johannes Brosseder (Hrsg.), Verborgener Gott – verborgene Kirche? Die kenotische Theologie und ihre ekklesiologischen Implikationen (Forum Systematik Bd. 14), Stuttgart 2001, 81–98.

[15]   Vgl. Rainer Kampling, Das Lied vom Weg Jesu, des Herrn. Eine Annäherung an Phil 2,6–11, in: Bibel und Kirche 64 (2009), 18–22.

[16]   Zu den politischen Implikationen des Philipperbriefes insges. vgl. Alex Zanotelli, Il Dio che si svuota. Filippesi: una comunità alternativa all’Imperio (Cammini dello Spirito vol. 5), Bologna 2014.

[17]   Art. „Erosion“, in: Mineralienatlas – Fossilienatlas – Geologieatlas = https://www.mineralienatlas.de/lexikon/index.php/Erosion?lang=de [Zugriff: 28.09.2023].