Philosophische Predigt zum Nachlesen – Klaus Mertes

Berlin, 03. April 2022 – es gilt das gesprochene Wort

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Im vergangenen Jahr jährte sich der 200. Geburtstag von Dostojewski. Das war auch in Russland ein Anlass, ihn zu feiern. In sowjetischen Zeiten galt er wegen seines tiefen christlichen Glaubens als verpönt. Im heutigen Russland wird er wegen seiner anti-westlichen, slawophilen Positionen staatspropagandistisch verneinnahmt. Beides trifft etwas an ihm. Christentum und russische Volksseele gehören für Dostojewski zusammen. In seinem Roman „der Idiot“ steht ein kleines Porträt, über einen „General“, genauer: den „Generaldirektor“ der Moskauer Gefängnis-Krankenstationen. Es handelt sich um den deutschen Arzt Friedrich Josef Haas, der noch heute in Russland als der „heilige Doktor von Moskau“ verehrt wird. In dem Porträt kommt beides vor, die russische Volksseele und ihre Empfänglichkeit für christliche Barmherzigkeit, gerade auch in der Verbrecherseele. Dostojewski beschreibt die aufopferungsvolle Sorge des Arztes um die Unglücklichen, die von den Moskauer Sperlingsbergen aus in die Verbannung geschickt wurden: „Es kam soweit, dass man ihn in ganz Russland und ganz Sibirien kannte, das heißt es kannten ihn alle Verbrecher. Mir erzählte einer, der in Sibirien gewesen, er habe selber miterlebt, wie die allereingefleischtesten Verbrecher des Generals gedachten … Es konnte geschehen, dass einer dieser Unglücklichen, der seine zwölf Seelen getötet, oder sechs Kinder rein zum Vergnügen umgebracht hatte …, plötzlich mir nichts dir nichts und vermutlich überhaupt nur ein einziges Mal während seiner ganzen zwanzig Jahre einen Seufzer ausstieß und fragte, was mag wohl jetzt unser alter General machen, ob er noch lebt? Und lachte vielleicht dabei kurz auf, und damit basta. Woher aber wollen Sie wissen, welch ein Samenkorn durch diesen alten General, den er während zwanzig Jahren nicht vergessen, für immer in seiner Seele Wurzel gefasst hatte?“ Das Samenkorn, das stirbt um zu leben, ist eines der wichtigsten biblischen Motive in Dostojewskis Werk. Der Boden der russischen Seele ist für dieses Samenkorn besonders empfänglich. So hatte Dostojewski selbst es in der Lagerhaft kennengelernt und gedeutet.

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Ich verdanke der Lektüre von Dostojewski tiefe religiöse Prägungen, und ich frage mich staunend: Wie ist es möglich, dass Literatur so tief prägen kann? Wohl auch deswegen, weil Romangestalten mehr sind als nur Verkörperungen philosophischer Ideen. Das gilt gerade für Dostojewski. Er ist ein Menschenschöpfer. Ich begegne in seinen Romanen lebendigen Menschen. Und das bedeutet auch: Es herrscht Pluralität, mehr noch: Chaos. Wenn ich philosophische Gedankengebäude wie die von Aristoteles, Thomas von Aquin oder Hegel betrete, habe ich das Gefühl, in Kathedralen oder grandiosen Parklandschaften zu wandeln. Alles hat seinen Platz. Ich stehe da und staune über die Schönheit der Ordnung. Anders ist es bei Autoren wie Augustinus oder eben Dostojewski. Da betrete ich Gebirgslandschaften. Ich wandere über hohe Berggipfel und steige in tiefe Täler hinab. Keine Landschaft gleicht der anderen; ich befinde mich auf der ebenfalls schönen, aber auch wilden chaotischen Seite des Lebens. Schönheit ist für Dostojewski nicht weit von Schrecken entfernt, und Mystik nicht weit von Wahnsinn. Das wird exemplarisch sichtbar im „Idiot“, meinem Lieblingsroman.

In einer idealen, philosophisch geordneten Welt fallen die drei bekannten, nach Platon benannten Ideen zusammen: Das Wahre, das Gute und das Schöne. Die Einheit der drei Ideen lässt sich erahnen, wenn wir etwa in das Gesicht eines wahrhaft gütigen Menschen blicken. Ich betrachte auch besonders gerne Gesichter von gealterten Menschen, die einander noch im hohen Alter lieben. Da spüre ich etwas von dieser Einheit. Doch in der gefallenen Welt ist die Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem nicht garantiert. Schönheit kann auch im Bösen aufschimmern, im Chaotischen, in der Lüge, „im Gleichgültigen, ja bis ins Dumme hinein.“ (Guardini, S.281) Und da sind wir bei Dostojewski.

In dem Roman „Idiot“ begegnet Fürst Myschkin erstmals der Schönheit beim Anblick des Bildes einer Frau namens Nastasja Filipowna. „In diesem Gesicht ist viel Qual“ sagt er. Hintergrund dieser Qual ist eine biographische Lebenswunde. Nastasja ist stolz, aber auch bitter. Sie hasst den Täter, der ihr Leben zerstört hat, hat den Hass aber auch gegen sich selbst gewandt. Myschkin ist von Anblick des Bildes erschüttert. Es ruft seine Liebe hervor, eine Schmerzensliebe. Sie ist anders ist die andere Liebe, die Liebe zu Aglaja Iwanowna, seine Verlobte. Aglaja liebt ihn auch, aber nimmt Anstoß daran, dass ihr Verlobter sich gelegentlich in Gesellschaft „unpassend“ verhält – darüber später mehr. Eine vierte Person ist noch zu erwähnen, Parfjon Rogoshin, der Freund und Rivale von Myschkin. Er liebt Nastasja auf eine rasende, zerstörerische Weise. Die Konstellation ist komplex, und sie wird in einer Katastrophe enden.

Als junger Leser verliebte ich mich unsterblich in Aglaja, nicht in Nastasja. Erst als ich am Ende des Romans angekommen war, fing ich an, etwas von der anderen Liebe zu ahnen, von der Schmerzensliebe, von Schönheit, die mit Qual verbunden ist, und die genauso erschüttert wie der platonische Eros. Es ist der Eros des Mitleids, der durch die Begegnung mit der inneren Qual im Antlitz des Anderen hervorgerufen wird.

Der Roman schließt mit folgender Szene: Drei Personen sind in einem Raum versammelt. Nastasja Filipowna liegt tot auf dem Bett. Sie wurde ermordet von Parfjon Rogoshin. Myschkin betritt den Raum und sieht, was geschehen ist. Dunkelheit legt sich über die Szene. Es folgen wirre Gespräche zwischen den beiden Männern. „Rogoshin begann von Zeit zu Zeit irgendwelche Worte zu murmeln, leise, laut, schroff hervorstoßend, zusammenhanglos; begann schließlich laut aufzuschreien und zu lachen. Dann streckte der Fürst jedes Mal seine zitternde Hand aus und berührte leise seinen Kopf, seine Haare, streichelte sie und streichelte seine Wangen. Das war alles, was er tun konnte … Irgendein neues Gefühl quälte sein Herz mit unendlicher Sehnsucht. Da beugte er sich endlich in völliger Erschöpfung und Verzweiflung auf das Kissen und schmiegte sich mit seinem Gesicht an das bleiche, unbewegliche Antlitz Rogohshins. Tränen flossen aus seinen Augen auf Rogoshins Wangen.“ Am nächsten Morgen werden der Mörder Rogoshin, die Leiche Nastassja Filipownas und der Fürst gefunden, der Mörder „bewusstlos und im Fieber. Der Fürst aber saß unbeweglich neben ihm. Und jedes Mal, wenn der Kranke einen Schrei ausstieß oder zu phantasieren begann, beeilte er sich wieder, mit zitternder Hand sein Haar und seine Wangen zu streicheln, wie um ihn zu beruhigen und zu liebkosen. Doch er begriff nichts mehr, begriff nicht, was man ihn fragte, und von den Eingetretenen, die ihn umgaben, erkannte er keinen einzigen. Wenn Professor Schweizer (der Arzt, der ihn in der Schweiz behandelt hatte) jetzt selbst aus der Schweiz gekommen wäre, um seinen einstigen Schüler und Patienten zu sehen, so würde er … wieder nur mit der Achsel gezuckt und wie damals gesagt haben: Ein Idiot.“

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Platon verteidigt in seinem Dialog „Phaidros“ die erotische Liebe gegen den Vorwurf, lieben sei irrational, im negativen Sinn, also: lieben mache geisteskrank. Platon setzt dagegen: Erotische Liebe ist Ergriffenheit durch Schönheit; sie hebt in den Himmel empor, nicht nur in den Himmel des Schönen, sondern auch den des Wahren und Guten. Gerade deswegen macht erotische Liebe auch nicht irrational, wie die Rationalisten behaupten.

In der Gestalt des Myschkin kommt auch ein Eros in den Blick: Die Schmerzliebe des Mitleids, ausgelöst durch das Antlitz der anderen Person. Von außen betrachtet befremdet diese Liebe. Leute, die von der Schmerzliebe erfasst sind, zeigen manchmal seltsames Verhalten, ähnlich wie Verliebte. In der Mitte des Romans gibt es eine bezeichnende Szene. Mitten in einer feinen Gesellschaft schlägt Ganja, ein Rivale Myschkins, dem Fürsten „in rasender Wut“ ins Gesicht. „Der Fürst erbleichte. Mit seltsamem, vorwurfsvollem Blick sah er Ganja unverwandt in die Augen. Seine Lippen zitterten und schienen sich vergeblich zu bemühen, etwas hervorzubringen – ein seltsames Lächeln, das gar nicht zur Situation passte …“ Und dann: „Er wandte sich von ihm ab, bedeckte das Gesicht mit den Händen, ging in die nächste Ecke und brachte mit stockender Stimme hervor: Oh, wie werden sie das bereuen!“ Ein Lächeln, das gar nicht in die Situation passt, und auch ein Mitleid, das nicht passt. Es ist ein wenig so wie im heutigen Evangelium. Jesus macht etwas sehr Unpassendes. Er hört die Anklage, bückt sich und schreibt in den Sand. Er geht auf eine ganz andere Ebene. Das hat m.E. damit zu tun, dass Christus nicht in der Situation aufgeht. Er ist ganz drin, ist aber zugleich nach oben hin entzogen. Ich schlage vor, das so zu sehen: Jesus ist im Kontakt mit der Schmerzliebe zu der angeklagten Frau. Nach außen hin erscheint sein Verhalten als unpassend: Er ist ein Spinner, ein Narr. Und doch können sich die Umstehenden der anderen Dimension, die aus ihm strahlt, nicht entziehen. Die anklagende Meute zieht sich kleinlaut zurück. Christus und die Frau bleiben zurück. Er nimmt Kontakt mit ihr auf, auf eben dieser Ebene des „Unpassenden“. Vielleicht hat er dabei genauso wie Myschkin beides getan: Mit den Lippen gezittert und gelächelt.

Klaus Mertes SJ