Nähe trotz Abstand

Gedanken zum Sonntagsevangelium (Joh 1,35-42)

Als Jesus eines Tages sah, dass ihm zwei Männer folgten, „sagte er zu ihnen: »Was sucht ihr?« Sie sagten zu ihm: »Rabbi« – das heißt übersetzt: ˃Meister˂ -, »wo wohnst du?« Er sagte zu ihnen: »Kommt und seht!« Da kamen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm“ (Joh 1,38f). Was das Evangelium dieses Sonntags schildert (sich einer Person an die Fersen heften; sich von ihr spontan nach Hause einladen lassen; den ganzen Tag bei ihr in der Wohnung verbringen), das scheint nach langen Monaten von Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln wie eine Geschichte aus einer anderen Welt zu sein. Wie gerne würden Menschen jetzt einander einladen und besuchen – auch wenn der Schutz des Lebens erfordert, vorläufig weitgehend darauf zu verzichten.

So merkwürdig fremd das Sonntagsevangelium angesichts der Pandemie wirken mag, so spricht es doch Punkte an, die gerade in der gegenwärtigen Situation für uns wichtig sind: a) achtsam sein für die Fragen, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen um uns herum, so wie Jesus, der die zwei Männer direkt auf das anspricht, was sie möchten; b) andere nicht vergessen und aufgeben, sondern die Beziehung zu ihnen aufrechterhalten, so wie die zwei Männer, die nicht von Jesus ablassen; c) zusammenhalten – gerade in dunklen Tagen, so wie die drei aus dem Evangelium beieinanderbleiben, auch als die Nacht hereinbricht.

Es geht im Evangelium um persönliche Nähe – eines der wertvollsten Geschenke, die wir einander in schweren Zeiten machen können. Solche Nähe ist nicht dasselbe wie ein geringer Abstand im Raum: Ein Mensch kann dicht neben mir stehen, und trotzdem trennen uns Welten voneinander; ein Mensch kann sich auf der anderen Seite des Globus befinden mich dennoch durch ein Telefonat, durch einen Brief oder auf anderem Wege tief berühren.

Natürlich drängt menschliche Nähe danach, leiblich konkret und spürbar zu werden, und dazu gehören in vielen Fällen auch das räumliche Beieinandersein und die körperliche Berührung. Doch kann sich unsere Nähe zu anderen in vielfältiger Weise ausdrücken, und so gilt es, dafür alle Möglichkeiten zu nutzen, die uns – auch dank moderner Technik – zur Verfügung stehen. Bitten wir Gott um die Kreativität, anderen Nähe trotz Abstand zu schenken und ihnen zu zeigen: „Komm und sieh! Ich bin für dich da!“

Jan Korditschke SJ