Nachlese Philosophische Predigt – Luitgardis Parasie

Predigt am 2.10.2022 in St. Canisius, Berlin, über Markus 9,14-29

Wenn der Glaube in die Krise kommt

„Soso, eine philosophische Predigt hältst du also“, schrieb mir ein Freund augenzwinkernd. „Aber die Philia zur Sophia (= die Liebe zur Weisheit) ist ja eigentlich immer dabei, oder?“

Liebe Gemeinde,

ich sollte ja schon am 15.3.2020 hier in St. Canisius predigen. Am 14.3. morgens hatte ich mit Pater Hösl den Ablauf des Gottesdienstes besprochen. Am 14.3. abends wurden alle Gottesdienste verboten.

„Abbruch – Umbruch – Aufbruch: Glaube und Zweifel in brüchigen Zeiten“ hieß das Thema der Fastenpredigten 2020, zu dem ich damals eiengeladen war. Aber dass Abbruch und Umbruch uns so unmittelbar betreffen würden, wer konnte das ahnen. Erst Corona, nun der Krieg.

Eure Kirche St. Canisius hat Abbruch und Umbruch schon mehrmals erlebt: Sie wurde 1921 erbaut, vor 101 Jahren. Aber sie wurde bereits zweimal komplett zerstört, 1943 durch Bomben, und 1995 durch einen Großbrand. Da kann der Glaube schon in die Krise kommen, wenn unsere Kirche abbrennt, unsere geistliche Heimat. Aber die Menschen hier in Charlottenburg haben sich nicht unterkriegen lassen, die Kirche wurde neu aufgebaut, und sie ist echt der Hammer, ich bin begeistert von diesem modernen innovativen Gebäude. Also, aus schlimmen Krisen kann sehr Schönes hervorgehen.

Heute stecken unsere Kirchen in tiefen geistlichen Krisen. Eure Kirche, liebe katholische Geschwister, hat mehrere Reformbewegungen: „Wir sind Kirche“, Maria 2.0, Der synodale Weg – da passiert ganz viel, von der Basis her – aber die Kirchenleitung tut sich schwer, gerade im Blick auf die weltweite katholische Kirche. Ihr hier in Canisius seid ja schon eine Art Vorreiter, wenn beim Fernsehgottesdienst eine Frau predigen darf, und heute eine evangelische Pastorin. Da bewegt sich was. – Um meine evangelische Kirche steht es nicht besser, sie leidet aus meiner Sicht an einem enormen Substanzverlust, wir springen auf jeden hippen Zug auf – aber das Zentrum unseres Glaubens, Jesus, sein Kreuz und seine Auferstehung, verlieren wir aus den Augen. Kürzlich sagte mir die Mitarbeiterin einer Kirchengemeinde, in der ich gepredigt habe: „Bei uns steht der Glaube nicht mehr im Vordergrund – ja nicht mal mehr im Hintergrund.“ Das ist bitter. Und so verschwinden wir zunehmend. Der Unglaube dagegen, der wird manchmal sogar militant beworben.

Mit einer Freundin war ich in der Adventszeit zu einer Lesung mit dem Literaturkritiker Dennis Scheck. Bekannt aus Funk und Fernsehen. Er empfahl ca 40 Bücher. Als – wohlgemerkt – Weihnachtslektüre hatte er einen besonders heißen Tipp parat: Richard Dawkins, Atheismus für Anfänger. Das meinte der Mann ernst! Mir hat es echt die Sprache verschlagen. Ich war fassungslos, wie provozierend und unwidersprochen hier für den Atheismus Werbung gemacht wurde.

Hilft Atheismus bei Verzweiflung? Bei schweren persönlichen Krisen? Dem Vater des schwerkranken Jungen jedenfalls nicht. Er ist am Ende. Wir haben seine Geschichte eben gehört. Die letzte Hoffnung dieses Vaters ist Jesus. Detailliert beschreibt er ihm die Krankheit seines Sohnes. „Ein Geist hat meinen Sohn befallen, und wo er ihn erwischt, da reißt er ihn, er schäumt und knirscht mit den Zähnen und wird starr.“ Und Jesus fragt nach: „Wie lange hat er das schon?“ Und der Vater antwortet: „Von Kind an. Und oft hat er ihn ins Wasser oder Feuer geworfen um ihn umzubringen.“ Das hört sich für uns nach Epilepsie an. Das Kind hat schwere Krampfanfälle. Und die Eltern sind in beständiger Sorge. Sie haben keine ruhige Sekunde und sind mit den Nerven am Ende. Der Vater hat schon alles versucht, Jesus ist seine letzte Hoffnung. „Kannst du was, so erbarme dich unser und hilf uns“, fleht der Vater. Wie sehr würde er sich wünschen, dass Jesus das kann. Aber er ist sich unsicher. Und Jesus sagt: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt.“ Wie bitte? Wo soll ich denn so einen Glauben herkriegen? Und heißt das im Umkehrschluss, meine Gebete werden nicht erhört, wenn ich nicht richtig glaube?

Tatsächlich ist das manchmal von frommen Christen zu hören. Die Frau eines Freundes war schwer an Krebs erkrankt. Fromme Mitchristen warfen ihm vor: Unsere Gebete um Heilung werden nicht erhört, weil dein Unglaube im Weg steht. Du glaubst nicht genug, deshalb wird sie nicht gesund. – Liebe Brüder und Schwestern, das ist Quatsch. Denn Glaube ist ja keine Leistung, die wir erbringen. So nach dem Motto: Je mehr ich mich anstrenge zu glauben, desto eher tut Gott was. Nein, Glaube ist kein Kraftakt das Unwahrscheinliche für möglich zu halten. „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“ – mit diesem Satz stellt Jesus sich selber vor. Er ist der, der glaubt, der in vertrauensvollem Kontakt mit Gott ist. Darum ist Jesus alles möglich. Und der Mann antwortet zaghaft, zitternd: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Bei Jesus bist du mit deinen Zweifeln, mit deinen Fragen genau richtig. Nichts hab ich zu bringen, Jesus, nur ein klitzekleines Fünkchen Hoffnung. Nicht nur mein Sohn braucht Hilfe, Jesus, auch mein Glaube braucht Hilfe.

Liebe Gemeinde, den Glauben kann man gar nicht haben in dem Sinne, wie man ein Auto oder ein Handy besitzt. Klar, an manchen Tagen ist mein Glaube stark und furchtlos. An anderen Tagen aber kann ich nur sagen: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr. Der Glaube wird nicht erarbeitet, sondern er wird dir geschenkt. Wenn der englische Schauspieler Nigel Goodwin darüber erzählt, wie er Christ wurde, sagt er: „Damals, als der Glaube zu mir kam.“

Der Berliner Philosophieprofessor Richard Schröder schrieb vor einigen Jahren in der ZEIT. „Die beste aller Gaben ist der Frieden mit Gott. Den können wir uns nicht erarbeiten, er kann uns nur geschenkt werden. Von uns aus sind wir unfähig dazu, ihn zu beschaffen, also sei so nett und lass dich beschenken.“

Frau Winter und ihr Mann waren in einer schweren gesundheitlichen Krise. Sie haben mir erlaubt, dass ich ihre Geschichte erzähle. Frau Winter rief mich an. „Mein Mann liegt schon seit 2 Wochen mit hohem Fieber in der Uniklinik. Die Ärzte vermuten eine Herzbeutelentzündung. Er darf sich kaum bewegen, aber sie kriegen das Fieber nicht runter. Er hat große Angst, und er möchte gern das Abendmahl.“ Also die heilige Kommunion. – Was ich übrigens ein viel schöneres Wort finde als unseren protestantischen Begriff Abendmahl. Denn Kommunion heißt Gemeinschaft, und genau das ist es ja: Eine tiefe Gemeinschaft mit Gott. – Ich fuhr also hin.

Die beiden erwarten mich schon. Frau Winter ist ganz feierlich

schwarz gekleidet. Eine weiße Serviette liegt auf dem Nachttisch, eine Kerze brennt, und ein Blumensträußchen steht da. Es herrscht eine erwartungsvolle Atmosphäre. Frau Winter hatte vorhin noch einen Arbeitskollegen ihres Mannes getroffen und ihm gesagt: „Die Pastorin kommt gleich, Helmut will das Abendmahl.“ Darauf hatte er sie ganz entsetzt angesehen und gesagt: „Na, nun macht mal keine Sachen, so weit ist es doch wohl noch nicht.“ Ich habe gestern von meinen Jesuitenbrüdern hier in Canisius erfahren, dass der Priester oft erst zur „letzten Ölung“ gerufen wird, wenn es also ganz offensichtlich mit dem Kranken zu Ende geht. Bei uns in Südniedersachsen wird das Krankenabendmahl von den meisten ebenfalls als so eine Art „Letzte Ölung“ angesehen, und wenn man die Pastorin ruft, signalisiert man dem Kranken zugleich: Du wirst bald sterben. Herr und Frau Winter sehen das ganz anders. Sie sehnen sich nach Gottes Nähe in ihrer Krise. Wir beten zusammen Psalm 103: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ Dann feiern wir das Abendmahl. Sie sind danach voller Frieden.

Ein paar Tage später ruft mich Frau Winter wieder an: „Nach dem Abendmahl fühlte sich mein Mann viel kräftiger, und am nächsten Morgen war zum ersten Mal seit mehr als 2 Wochen das Fieber runter. Jetzt geht es ihm jeden Tag besser.“ Frau Winter und ihr Mann führten das ganz klar auf das Abendmahl zurück.

Erinnern Sie sich an die Lesung? Paulus schreibt an Timotheus: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist!

Durch die Auflegung meiner Hände. Was für eine Kraft steckt darin, wenn ich anderen im Namen Gottes die Hände auflege. Ich bin selber immer sehr berührt, wenn ich erlebe, wie Gott dadurch handelt. Und dieses Segnen im Namen Gottes, das ist ja – jedenfalls aus protestantischer Sicht – nicht auf Pastorinnen und Priester beschränkt. Das darf jeder, der getauft ist und an Jesus glaubt.

Ja, manchmal kann Glaube tatsächlich Berge versetzen und hilft gesund zu werden. Winters feierten einige Zeit später in großer Runde den 40. Hochzeitstag. – Auch der epilepsiekranke Junge aus der Bibel wurde von Jesus geheilt.

Manchmal hilft Glaube leben – manchmal hilft er sterben. Und das war meine nächste Erfahrung mit dem Krankenabendmahl.

Die alte Dame konnte nicht mehr in die Kirche kommen, sie war über 80, konnte nicht mehr gut laufen und hörte schlecht. Bei einem meiner Besuche sagte die Tochter: „Mutter vermisst so, dass sie nicht mehr in die Kirche kommen kann, besonders das Abendmahl fehlt ihr.“ „Kein Problem“, sagte ich, „das können wir auch zu Hause feiern.“ Die alte Dame war in Schwarz gekleidet; sie hatte noch eine alte Nachbarin dazu eingeladen, die ebenfalls in Schwarz war, und auch die Tochter hatte sich schick angezogen mit weißer Bluse und Rock. Das Zimmer war vorbereitet mit weißer Tischdecke und Kerze. Die alte Dame konnte rein akustisch sicherlich nur die Hälfte verstehen, aber das machte nichts, denn viele Lieder und Gebete konnte sie sowieso auswendig, und das Vaterunser sprach sie ganz laut mit.

Am nächsten Morgen um 7 klingelte mein Telefon. Es war die Tochter der alten Dame. „Mutter ist heute Nacht um 5 Uhr eingeschlafen.“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Heute Nacht? Ihr ging es doch so gut gestern.“ „Ja, das war auch so“, erwiderte die Tochter, „aber gestern Nachmittag ist sie plötzlich zusammengesackt. Meine Geschwister sind gekommen. Aber gegen 2 Uhr nachts schickte sie uns alle aus dem Zimmer. Sie wollte ihre Ruhe haben und ist dann friedlich eingeschlafen. Aber mit dem Abendmahl gestern, ich weiß auch nicht, aber es ist so, als ob sie das noch gebraucht hätte.“

Liebe Gemeinde, um noch mal auf den Anfang zurückzukommen: Nein, Atheismus hilft ganz sicher nicht, wenn der Boden unter unseren Füßen wankt und Angst sich ausbreitet, er hilft nicht bei Verzweiflung, und er hilft schon gar nicht sterben. Glaube aber hilft leben, hilft hoffen und handeln, und er hilft sterben. Wenn dein Glaube in die Krise kommt, wenn deine Gebete zaghaft und zweifelnd sind, das macht nichts. Denn nicht du musst den Glauben festhalten, sondern er hält dich. Und das ist auch so, wenn du mal gar nichts davon spürst. Bete einfach wie der Vater des kranken Jungen: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“