Nachlese – Philosophische Predigt Eva Maria Höller-Cladders

Nicht vom Himmel gefallen – Trauer und Trauerscheu:
Religionshistorische Aspekte unseres Umgangs mit Trauer“
(Stand: 06.10.2024)

Höller-Cladders

Liebe Gemeinde, liebe Gäste,  

anlässlich der bevorstehenden Trauer-Gedenktage, seien es religiöse wie Allerseelen oder weltliche wie der Volkstrauertag habe ich mich gefragt:
– Was ist das eigentlich: Trauer? Und wozu ist Trauer gut?
– Worüber reden wir, wenn wir über Trauer reden: über ein Gefühl nach einem schmerzhaften Verlust? Oder über ein Ritual, das wir mit einer Gruppe – z. B. Familie, Freunde, Nation oder Religionsgemein­schaft – teilen?

Fragen über Fragen! Fragen, zu denen die Soziologie, die Psychologie und die Ritualkunde Antworten suchen. Deren Perspektiven werde ich heute Abend jedoch nicht einnehmen. Stattdessen ist mein Thema, an dem ich dann hängen geblieben bin: die Scheu, auf Trauer zuzugehen und Trauer selbst zu zeigen. Anders ausgedrückt: Warum wir Trauer oft als peinlich und etwas zu Tabuisierendes oder bestenfalls als Privatsache ansehen – und dies paradoxerweise in unserer so extrovertierten Gesellschaft, die Trauer doch selbst häufig medial groß inszeniert. Ich möch­te mit Ihnen eine bestimmte religions­historische Perspektive des Christen­tums ausleuch­ten und schauen, wie sie unsere Einstellung zur Trauer beeinflusst hat.   

Wir alle erleben in unseren individuellen Lebensläufen Trauer auf vielfältige Weise.  Wir trauern ja nicht nur im Todesfall. Wir trauern auch über andere tief­greifende Verluste, über gravierende Lebensveränderungen, über heftige Ent­täuschun­gen – oder über eine Schuld, die wir auf uns geladen haben, so dass diese Trauer die Färbung von Reue annimmt. Auch als Christen trauern wir, und zwar ganz exempla­risch in der Kar­woche (Kar bedeutet ja im Mittelhoch­deut­schen „Trauer, Kummer, Wehklage“). In dieser Kar- oder Trauerwoche betrauern wir das Leiden und das Sterben Jesu; wir betrauern auch, dass dieses Leiden wegen unserer Unvoll­kom­menheit, unserer Sündhaftigkeit geschehen ist; und schließlich steht diese Trauer der Karwoche unter dem österlichen Horizont der Auferstehung: es ist also eine Trauer, die in Hoffnung und Freude mündet. Alles ganz schön komplex!

Wir sehen: Wir üben uns im Trauern sowohl zyklisch und rituell zu vorgegeben Anlässen als auch unvorhersehbar in individuellen Verlustsituationen. Wir sollten also meinen, dass wir fit sind im Umgang mit Trauer.

Aber, wie gesagt, manchmal hat man den Eindruck, als sei Trauer so etwas wie der viel­zi­tier­te Elefant im Raum, d.h.: Wir mögen Trauer wahrnehmen, aber nicht über sie sprechen wollen. Wenn wir Trauernden begegnen, fehlen uns häufig die Worte. Wir machen einen Bogen um die Trauer. Welche kultur­histo­rische Erklärung gibt es dafür? Dazu habe ich im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Thema eine erhellende Analyse gefunden, und zwar von Karl-Ernst Apfelbacher, Theologe, Philosoph, Hochschul­lehrer und: katholischer Pfar­rer in München-Schwabing  (2015 verstorben). Apfelbacher hat für diese Berüh­rungs­ängste eine religions­geschichtliche Erklärung; diese hat er in 2002 im Rah­men einer großen wis­sen­­schaftlichen Arbeit unter dem Titel Selig die Trauernden. Kultur­geschicht­liche Aspekte des Christentums[i] dargelegt, und ich möchte seine These in dieser Predigt skizzieren:  

Zitat: „Es gibt in unserer Gesellschaft widersprüchliche Einstellungen zur Trauer. Für die moderne Psychologie ist Trauern ein ´Prozess von höchster Wichtigkeit für die Gesundheit eines Menschen´“[ii]….Andere halten „Trauer für ein Übel, mit dem man möglichst nicht in Berührung kommen will… Trauerabwehr, Trauer­scheu und große Hilflosigkeit im Umgang mit eigener und fremder Trauer sind weit verbreitet.“ Und er fügt hinzu: „Erstaunlich ist, dass man in allen christli­chen Konfessionen auf denselben widersprüch­lichen Befund trifft.“[iii]

Auch in seinem eigenen christlichen Umfeld trifft Apfelbacher auf Trauer­skep­sis und auf die weit verbreitete Überzeugung, „Trauern vertrage sich eigent­­lich … nicht mit christlich-froher Glaubenszuver­sicht.“[iv] (Dazu hörten wir ja vorhin in den diversen Lesungen ebenfalls einige Andeu­tungen.) Und Apfelbacher stellt sich eine Frage, die auch heute – 20 Jahre später –  gilt:
Welche religi­ons­geschicht­lichen Einflüsse sind heute noch „wirksam und lebendig“[v] in uns und prägen bis heute die Art und Weise, wie wir mit Trauer umgehen?  Und zwar interessanterweise unabhängig da­von, ob es sich dabei um gläubige Christen oder säkularisierte Mitmenschen handelt. Wie Apfel­bacher in seiner Untersuchung darlegt, macht er in der abend­ländisch-christ­lichen Kultur „von Anfang an zwei gegensätzliche Traditionen im Umgang mit Trauer“[vi] aus: eine trauerabwehrende und eine trauerbegünstigende Tradition.

Die trauerabwehrende und -abwertende Tradition ist von der antiken griechischen Philosophie, speziell der Stoa, beeinflusst, und wird genährt von Textstellen des AT wie beispielsweise im Buch Jesus Sirach:[vii]
„Überlass dich nicht der Sorge,
schade dir nicht selbst durch dein Grübeln!
Herzensfreude ist Leben für den Menschen,
Frohsinn verlängert ihm die Tage.
Überrede Dich selbst und beschwichtige dein Herz,
halte Verdruss von dir fern! Denn viele tötet die Sorge
und Verdruss hat keinen Wert.“

Nicht zu vergessen die Paulus-Stelle, die wir vorhin hörten:
„Schwestern und Brüder, wir wollen euch über die Entschlafenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben.“ (1 Thess. 4, 13)
Solche Textstellen boten der trauer­abweh­ren­den Tradition insofern Vorschub, als sie häufig dahingehend missverstanden wurden, „dass wahre Christen über­haupt nicht trauern sollen“. „Stilbildend in diese Richtung“, so Apfel­ba­cher, „wurde Augustinus“[viii] in der christlichen Spätantike (er war zwar nicht der einzige, aber vielleicht der prominenteste Einfluss). Das augustini­sche Sün­den­­bewusst­sein und eine weitverbreitete große Angst, im Endgericht am Jüng­sten Tag nicht bestehen zu können, habe gleichsam die lebens­förder­liche Trauer verschluckt.[ix] Etwas von diesem Geiste werden auch die Älteren unter uns noch erlebt haben, wenn wir uns z. B. an die Totenliturgie aus vor-vatikani­schen Zeiten erinnern: Bis zur Liturgie­reform des Zweiten Vatikani­schen Kon­zils waren nämlich in der traditionellen Toten­liturgie „Trauer… und der Schmerz der Lebenden um die Toten wie weggeblen­det.“[x] Im Zentrum der Begräbnis­feier (Exequien) standen stattdessen das „Fürbitt­gebet für die Toten, das Er­schre­cken vor dem ´Tag des Zorns´, dem Jüngsten Gericht, … die An­ru­fung des Erbarmens Gottes und die Bitte um ´Verschonung´.“[xi] — Wir sehen: Dieser Prozess, dass Trauer quasi im Schuld­bewusstsein der menschlichen Unvollkom­men­heit er­stickt wurde, wirkte bis in unsere Zeit fort. —  So weit zur trauer­abweh­renden Tradition.

Die trauerbegünstigende Tradition hat ihre Ursprünge ebenfalls im Alten Testa­ment: bei den Propheten, den Psalmen, den Klageliedern (wir hörten vorhin z. B. von der 30-tägigen Trauer um Mose), und sie setzt sich im neuen Testament fort bis hin zur Bergpredigt (Mt. 5, 4): „Selig die Trauernden; denn sie wer­den getröstet werden“. Oder bis zum 2. Paulus-Brief an die Korinther (2 Kor. 7, 10), wo Paulus von der gott­gewollten Traurigkeit spricht, welche nämlich Sinnes­ände­rung zum Heil bewirke: Dieser trauer­­begünsti­gende Gedanke der gott­gewoll­ten Traurigkeit schlägt zwar Wurzeln im frühen Christen­tum[xii], führt aber in der abendländischen Kultur ein „Schatten­dasein“[xiii]. Erst im Übergang zum Hoch­mittelalter bei Bernhard von Clairvaux, dem Zister­zien­sermönch und früh­scho­lasti­schen Mystiker, finden wir ihn verstärkt — wie überhaupt in der christli­chen Mystik. Die ja im Übrigen nach­weislich bis in die Gegenwart und bis in die moderne Psychologie hinein­wirkt.

Nun stellt sich natürlich die Frage, weshalb diese beiden christlichen Traditi­o­nen – die empathische, trauerbegünstigende und die trauerscheue – so unter­schied­lich mit Trauer umgehen. Ein wesentlicher Grund – so Apfelbacher – liegt aus seiner Sicht darin – und jetzt wird es spannend – , dass sie sich auf zwei unterschiedliche Begriffe der Gerechtig­keit beziehen —, insbesondere der Gerechtigkeit Gottes. Das erscheint auf den ersten Blick überraschend. Schauen wir uns das also genauer an und blicken wir einerseits auf den abend­ländischen Begriff der Gerechtigkeit und andererseits auf den bibli­schen Begriff der Gerechtigkeit:

Im Abendland wurde ein Begriff der Gerechtigkeit vorherrschend, den wir foren­sisch nennen. Das Wort forensisch „stammt vom lateinischen forensis ´zum Forum, Markt[platz] gehörig´. Gerichtsverfahren, Untersuchungen, Urteils­ver­kündungen sowie der Strafvollzug im antiken Rom wurden öffentlich und meist auf dem Marktplatz (Forum) durchgeführt.“[xiv] Diese forensische Ge­rechtigkeit „verlangt, dass sie durchgesetzt wird“, dass „für Rechtsver­letzung Genugtuung eingefordert“ wird und dass eine „´gerechte Strafe´ verhängt wird.“[xv] Dem entspricht im religiösen, „dass man sich Gott vor allem als stren­gen Wahrer dieser Gerechtig­keit vorstellt: Gott schafft Gerechtig­keit, indem er Genugtuung oder Strafe fordert.“[xvi] – Soweit zum abendländischen, forensi­schen Begriff von Gerechtigkeit (der uns im Übrigen heute noch beherrscht).

Geht man jedoch mit Apfelbacher zu den hebräischen Textursprüngen der Bibel zurück, so erhält man ein ganz anderes Bild. Dazu muss man sich be­wusst sein, dass Gerechtigkeit in der Bibel ein ganz zentraler Begriff mit viel­fältigen Bedeu­tungs­nuancen ist, und dass seine konkrete Bedeutung stark von dem Zusam­men­hang, in dem er steht, abhängt. Grundsätzlich ist, wie Christian Rose in seinem Aufsatz über Gerechtigkeit in der Bibel herausstellt, Gerech­­tig­keit ein Relationsbegriff, ein Beziehungsbegriff, d.h. Gerechtigkeit bringt „ein konkret-soziales Le­bens­verhältnis von Partnern oder Bundesgenos­sen“ zum Ausdruck. „´Gerechtigkeit Gottes` [bedeutet] dann Gottes bundes­gemäßes Verhalten gegenüber den Menschen.“[xvii] Zwar nicht durchgängig und in den Interpretatio­nen auch nicht immer unumstritten, aber doch vorherr­schend ist die Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit als „Gottes rettende Heilsmacht“: Gerechtigkeit Gottes als das „von ihm in freier Gnade bereitete und als Geschenk gewährte Heil.“[xviii]

Das hebräische ts°daqa, so die hebräische Bezeichnung für Gerechtigkeit, be­deutet auch für Apfelbacher Heil, gegenseitige verlässliche Treue in Wahr­haf­tig­keit und barmherzige Liebe.[xix] „Der Satz ´Gott schafft Gerechtig­keit´ hat somit nichts mit einer Forderung nach Genugtuung oder Strafe im abend­län­di­schen Sinn zu tun. Doch was geschah in der Bibelrezeption? „Der abend­län­dische fo­ren­sische Begriff der Gerechtigkeit prägte die abend­ländische Kultur so sehr, dass der biblische Begriff ts°daqa , den man im Latei­ni­schen zumeist mit justitita, im Deut­schen mit Gerechtigkeit übersetzt [und kaum noch, wie stellenweise in der Vulgata, mit misericordia, Barmherzig­­keit], in seiner Eigen­tümlich­keit kaum mehr gesehen wurde.“[xx] (Der Herausbildung der starken fo­rensischen Denk­rich­tung lag also offensichtlich ganz wesentlich auch ein sprachliches Nichtwissen, eine weitverbreitete Unkenntnis des Hebräischen, zugrunde.) Der Begriff einer „strafenden Gerechtig­keit“, mit der Gott die Men­schen bedrohe, so Apfelbacher[xxi], sei der Heiligen Schrift fremd: Eine strafende Gerechtigkeit sei [hier] ein Widerspruch in sich, „eine contradictio in adiecto“[xxii].

Ich komme zum Schluss:  
Was hat das nun alles mit Trauer bzw. Trauerabwehr zu tun? Nun, offensicht­lich hat „der im Abendland vorherrschende forensische Begriff von Gerechtig­keit … eine Tendenz, Trauervorgänge abzuschnüren.“[xxiii] Wer sich ständig unter dem Zwang sehe, um der Gerechtigkeit willen für ein Defizit, für seine Schuld Genugtuung leisten zu müssen oder Strafe zu erleiden, wer also nicht auf eine mitleidende Vergebung der Schuld hoffen könne, der, so Apfelbacher, könne ver­zweifeln, aber nicht trauern in Hoffnung. Wenn man hingegen ´Gerech­tig­­keit´ im Sinne der Bibel und im Sinne der christlichen Mystik als Barm­herzig­keit verstehe, dann eröffne sich dem Trauernden ein Raum: der „Raum der Hoffnung auf neuen Anfang.“[xxiv] Schließlich noch ein Fazit:
Wenngleich die Kirche sich in ihrem Denken, in ihrer Sprache, ihren Text­deutun­gen und Handlungsanweisungen in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht milder und Empathie-orientierter zeigt, so  schwingen doch immer noch jahr­hundertealte religions­philosophische Prägungen wie die skizzierten unter­schwellig mit. (Wir haben diese Prägungen quasi noch „in den Adern“.) Unsere Art, mit Trauer umzu­gehen, ist also nicht vom Himmel gefallen. Zumindest ich habe mich ertappt, durch meine Prägungen der Kindheit und Jugend mein Gottesbild zwar nicht nur, aber hin und wieder auch, forensisch zu sehen. Wenn wir uns folglich religions­philosophische Tiefendimensionen und bis dato un­be­wusste Prägungen bewusst machen, kann uns das helfen, offener, mutiger und offensiver auf Trauer zuzugehen.

Eva Maria Höller-Cladders


[i] Selig die Trauernden. Kulturgeschichtliche Aspekte des Christentums. Pustet, Regensburg 2002, ISBN 3-7917-1797-9

[ii] 18.07.2024  https://www.herder.de/stz/wiedergelesen/trauer-und-trauerscheu-kulturgeschichtliche-wurzeln-eines-widerspruechlichen-verhaltens/  Karl-Ernst Apfelbacher: Trauer und Trauerscheu: Kulturgeschichtliche Wurzeln eines widersprüchlichen Verhaltens, 1.11.2002. Alle nachfolgenden Apfelbacher-Zitate stammen aus diesem Aufsatz, der im zeitlichen Zusammenhang mit seinem Buch erschien. Diese Web-Version hat keine Seitenangaben.
Apfelbacher zitiert hier die renommierte Psychotherapeutin Verena Kast, Trauern: Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart 19. Aufl., 1997. S. 16.

[iii] Apfelbacher, dto.

[iv] Apfelbacher, dto.

[v] Apfelbacher, dto. 

[vi] Apfelbacher, dto.

[vii] Jesus Sirach, Kapitel 30, 21 – 23

[viii] Apfelbacher, dto.

[ix] Apfelbacher, dto.

[x] Apfelbacher dto.

[xi] Apfelbacher, dto.

[xii] Etwa in der frühchristlichen ägyptischen Mönchsbewegung, und kommt über den Mönch und Priester Johan­nes Cassian (um 360 – 435) und später über Papst Gregor den Großen (gest. 604) in die abendländische Kultur

[xiii] Apfelbacher, dto.

[xiv] 11.08.2024, Wikipedia unter Forensik

[xv] Apfelbacher, dto.

[xvi] Apfelbacher dto.

[xvii] Rose, Christian, Art. Gerechtigkeit Gottes (NT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2011, S. 2.

[xviii] Rose, dto.

[xix] Apfelbacher dto.

[xx] Apfelbacher dto.

[xxi] der sich seinerseits auf den Theologen Gerhard von Rad beruft

[xxii] Apfelbacher zitiert hier G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1. München 6. Aufl. 1969), S. 389.

[xxiii] Siehe Apfelbacher dto.

[xxiv] Apfelbacher dto.