Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schwestern und Brüder
Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Einladung nach Berlin. Heute am Fest der Taufe des Herrn stehen wir am Übergang von der Weihnachtszeit in das normale Kirchenjahr. Es ist vielleicht ein schönes Bild dafür, dass wir in der Kirche immer wieder von Zeiten des Übergangs geprägt werden.
In Nordeuropa – Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island – leben derzeit rund 350.000 Katholiken, die offiziell bei der Kirche gemeldet sind – die Dunkelziffer“ dürfte aber bei rund der doppelten Anzahl liegen, da viele der katholischen Einwanderer nicht in der katholischen Kirche registriert sind.
Der prozentuale Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung liegt zwischen 0,3% in Finnland und 3,8% in Island. Über 70% der Bevölkerung gehören in Skandinavien einer evangelischen Kirche an.
Wie geht katholisch-Sein unter diesen Bedingungen? Wie kann katholisch sein in einer extremen Diaspora gehen, wenn die nächste Kirchengemeinde 5 oder 6 Autostunden entfernt ist? Wie kann katholischen-sein gehen, wenn man als einziges Kind in der Klasse katholisch ist und Fronleichnam feiert? Was bedeutet diese Situation für die Priester und für die Laien in unseren Ländern?
Ich möchte Sie dazu auf eine kleine Reise in den Norden mitnehmen:
Es ist ein ganz normaler Sonntag in der Sankt Olavs Kirche in Oslo, der größten der drei Innenstadtgemeinden und zugleich Bischofskirche. Ich schaue auf der Internetseite der Gemeinde nach, wann der Sonntagsgottesdienst stattfindet und kann zwischen 3 Vorabendmessen und 7 Hochämtern wählen. In der anderen Kirche – Sankt Joseph – werden 5 Sonntagsmessen gefeiert.
Sonntag für Sonntag finden hier die Gottesdienste im Stundenrhythmus und in verschiedenen Sprachen statt – auf Norwegisch, Englisch, Vietnamesisch, Spanisch, Kroatisch, Französisch, Tagalog und Polnisch – dazwischen besteht noch Beichtmöglichkeit – wie an jedem Tag der Woche.
Die Gemeinde hat 12.500 registrierte Gemeindemitglieder – insgesamt werden es jedoch dreimal so viele sein, von denen laut Kirchenbesucherzählung 15-20% Sonntag für Sonntag die Kirche füllen, so dass nicht für alle Platz ist. Viele stehen noch vor der geöffneten Kirchentür und feiern den Gottesdienst von draußen mit.
Überfüllte Kirchen sind hier das Normale – und auch dass viele junge Gesichter unter den Gläubigen sind. 40% der im Bistum Oslo registrierten Katholiken sind nach 1980 geboren.
Ein anderes Beispiel: Der Pfarrer der St. Thorlak Gemeinde in Island ist Kapuzinerpater und betreut die Katholiken, die an der Ostküste der Insel leben. Seine Gemeinde streckt sich auf über 600 km – und hat 600 Mitglieder – „ein Katholik pro Kilometer“, sagt er. Um sie zu erreichen, muss sich der Priester etwas einfallen lassen, denn die Kinder können unmöglich zur Erstkommunion- oder Firmvorbereitung 5 Stunden mit dem Auto oder Bus reisen. Und so gibt es eben Unterricht via Skype oder Zoom am Computer, um den Kindern die Bedeutung des Sakramentes der Eucharistie zu vermitteln. Er stellt selbst die Unterrichtsmaterialien her, denn auf Katechesebücher in isländischer Sprache kann er nicht zurückgreifen. So entwickelt er eigene Kurse. Die Kinder erhalten die Unterrichtsmaterialien per mail und tauschen sich darüber mit dem Seelsorger am Bildschirm aus. Auf diese Weise kann er etwas mehr als 120 junge Menschen erreichen.
Ein drittes Beispiel:
Das Bistum Helsinki, das ganz Finnland umfasst hat eine Größe, die ungefähr der Fläche der BRD entspricht. In Deutschland gibt es ca. 11.000 katholische Pfarreien und Seelsorgeverbände – in Finnland verteilen sich die wenigen Gläubigen auf ganze 8 Gemeinden. Was das Bistum braucht, sind mehr Kirchen, Gemeinderäume.
Die geringe Zahl von Katholiken, die über eine so große Entfernung verteilt sind, macht die seelsorgliche Betreuung extrem schwer. Die Priester fahren im Jahr nicht selten 100.000 bis 150.000 Kilometer um die Sakramente zu spenden, den Kontakt zu den Gläubigen zu halten etc.
Auch in Finnland gilt, was für alle nordischen Länder normal ist. Die meisten Katholiken sind Arbeitsmigranten, die durch die Liberalisierung der Arbeitsmärkte in Europa und das große Arbeitsangebot im Norden in unsere Länder kommen – aus Polen, Kroatien, Litauen, von den Philippinen, aus Vietnam. Ein anderer Teil der Einwanderer sind Flüchtlinge: aus dem Irak, aus Syrien, der Ukraine, aus Ruanda und dem Kongo. Wer in den nordischen Ländern die katholische Kirche erlebt, erlebt die Weltkirche mit ihrer babylonischen Sprachenvielfalt von Menschen aus mehr als 70 Nationen: Hier ist jeden Sonntag Pfingsten.
Die modernen Kommunikationsmittel sind dabei eine große Hilfe. Smartphones und Tablets im Gottesdienst dienen nicht der Ablenkung, sondern sind eine Möglichkeit, die Messtexte in der eigenen Muttersprache mitbeten zu können. Schon lange vor der Corona Pandemie war das live Streaming von Gottesdiensten in den nordischen Ländern ganz normal. Es bietet den Menschen eine Hilfe, die aufgrund der großen Entfernungen nicht jeden Sonntag zur Kirche kommen können, doch mit der Gemeinde verbunden zu sein.
Die katholische Kirche in unseren Ländern ist somit eine rasant wachsende Kirche. Die Zahl der Taufen übersteigt bei weitem die Zahl der Beerdigungen. So kommt es, dass sich die Katholikenzahlen in einigen unserer Bistümer in den letzten Jahren verdrei– oder sogar vervierfacht haben. In Trondheim musste die alte Domkirche abgerissen werden – eine neue wurde im vergangenen Jahr eingeweiht. (Bischof Bernt Eidsvig)
Neben der großen Zahl an Einwanderern gibt es auch Konversionen. Viele der ehemaligen lutherischen Staatskirchen erleben in Nordeuropa eine Krise. Insbesondere der starke Einfluss der Regierungen auf innerkirchliche Glaubensfragen irritiert viele evangelische Christen zunehmend. Viele suchen wieder stärker nach einer tieferen Spiritualität, einer klaren Liturgie und einer Orientierung in Glaubensaussagen.
Ich selbst leite im Bistum Kopenhagen einen Kurs für erwachsene Taufbewerber und Konvertiten – jedes Jahr beginnen allein im Stadtbereich Kopenhagen 20-30 Menschen mit dem Kurs.
Die Zahl der Priester- und Ordensberufe steigt langsam, aber stetig. Im Jahr 2012 bereiteten sich insgesamt 60 junge Männer – inkl. der Kandidaten des neokatechumenalen Weges – aus unseren Ländern auf die Priesterweihe vor. Dies hatte zur Folge, dass die britische katholische Internetplattform „The Tablet“ in einem Artikel von einem „dramatischen Anstieg an Priesterberufen in Skandinavien“ sprach.
In Tromsø, dem nördlichsten Bischofssitz der Welt steht die Kathedrale „Unserer Lieben Frau“ – es gibt insgesamt 7.172 Katholiken auf einem Gebiet von 174.000 Quadratkilometern, auch Spitzbergen und der Nordkap gehören zur Prälatur Trondheim – doppelt so gross wie Portugal. Hier hat sich die Katholikenzahl in den letzten 15 Jahren fast vervierfacht.
Doch diese hier skizzierten Entwicklungen bringen auch Herausforderungen mit sich: Die einheimischen Katholiken bilden inzwischen in fast allen unseren Ländern die Minderheit, und die Integration der Einwanderer nicht nur in die Kirche, sondern auch in die Gesellschaft ist eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe, an der sich die katholische Kirche stark beteiligt.
Was die Finanzen angeht ist die katholische Kirche in Skandinavien eine arme Kirche in reichen Ländern. Die Kirchensteuer wird – mit Ausnahme Schwedens –nicht vom Staat eingezogen, sondern auf freiwilliger Basis entrichtet. Viele der katholischen Einwanderer kennen keine Kirchensteuer oder sind finanziell nicht in der Lage, feste Beiträge zu entrichten. Es fehlt an Kirchen, an Gemeinderäumen, an Unterrichts-Material, an Geldern für die Priesterbesoldung und an vielem mehr. Wir sind eine arme Kirche in reichen Ländern. Ohne Unterstützung aus Deutschland wären viele Bauprojekte, die Anschaffung von Fahrzeugen, Büchern, die Förderung der theologischen Aus- und Weiterbildung von Laien, Ordensleuten und Priestern, nicht möglich. Die Ansgarwerke der Bistümer Hamburg und Osnabrück, Köln, Münster und München, das Ansgarwerk der Schweiz, das Bonifatiuswerk, das Diasporakommissariat der deutschen Bischofskonferenz und hinter ihnen die vielen Spender in Deutschland stehen hier für die gelebte Solidarität mit den Christen in Nordeuropa. Dafür möchte ich stellvertretend für die Katholiken in unseren Ländern ein herzliches „Vergelt’s Gott“ sagen.
Eine weitere Herausforderung für die katholische Kirche besteht in ihrer Position als Minoritätskirche in einem stark säkularen Umfeld. Die katholische Kirche bewegt sich in Skandinavien in sehr pluralistischen Gesellschaften. Die Abtreibungszahlen in Norwegen und Schweden sind verhältnismäßig hoch, ebenso die Zahl der Ehescheidungen. Morallehre und Wertvorstellungen der katholischen Kirche stoßen hier zum Teil auf große Skepsis und auf Unverständnis.
Immer wieder versucht der Staat Eingriffe in die kirchlichen Strukturen zu tätigen. Vor kurzem erst, wurde in Schweden das Wahlversprechen der sozialdemokratischen Partei veröffentlicht, im Falle ihrer Wiederwahl, alle konfessionellen Schulen zu schließen. In Dänemark wurden den Kirchen inzwischen Steuererleichterungen für Spenden ab einer Höhe von 20.000 Euro aberkannt. Hier wurde auch ein Gesetzesvorschlag eingebracht, dass nur noch kirchliche Vereinigungen vom Staat anerkannt werden sollen, die eine demokratisch gewählte Leitung haben.
Ein weiterer Eingriff des dänischen Staates in kirchliche Angelegenheiten war die Abschaffung des sog. „Grossen Bettages“ – um die Verteidigungsausgaben des Landes zu finanzieren, oder auch ein Gesetzesvorschlag, demzufolge alle in nicht-dänischer Sprache gehaltenen Predigten übersetzt und veröffentlicht werden sollten.
Die staatliche Forderung in Finnland, auch die Priester der katholischen Kirche nach gängigen Tarifen zu bezahlen, hat die Kirche in diesem Land in große Finanznot gebracht.
Kenntnisse über die katholische Kirche, ihre Lehre und ihre Tradition sind spärlich bis nicht vorhanden. So sagte mir eine Frau, die der lutherischen Kirche angehört vor kurzem: „Wir sind Christen und ihr seid eben katholisch.“ – In Religionsbüchern stehen zum Teil falsche Informationen: Zum Beispiel: „Katholiken haben eine große Anzahl von Heiligen und beten die Jungfrau Maria an“. – (Episode im Zug).
Eine wichtige Herausforderung ist die ökumenische Zusammenarbeit. Auf diesem Gebiet ist viel gewachsen: Als Papst Johannes Paul II. im Jahr 1989 unsere Länder besuchte, durfte er nicht im ev. Dom in Roskilde sprechen. Im Jahre 2010 fand jedoch die Weihe des katholischen Bischofs von Tromsø in der ev. Domkirche statt. Auch der Bischof von Trondheim wurde im evangelischen Nidarosdom geweiht. In Schweden werden jeden Sonntag über 100 evangelische Kirchen für die Feier der Eucharistie genutzt.
Ein besonderes Ereignis für Schweden, aber auch für unsere ganze Region, war natürlich der Papstbesuch im schwedischen Lund zum Auftakt des Reformationsgedenkens und die darauffolgende Ernennung des Bischofs von Stockholm zum Kardinal.
Soweit der „Ausflug“ in den Norden Europas und seiner katholischen Diasporasituation.
Ich werde oft gefragt: Was können wir in Deutschland von der Kirche in den nordischen Ländern lernen?
Eine Antwort ist nicht leicht – und soll schon gar nicht besserwisserisch sein. Meines Erachtens gibt es jedoch einige Ansatzpunkte, die hilfreich sein könnten, um sich in Deutschland auf eine Minderheitensituation einzustellen.
Da ist zum einen die Situation der Weltkirche, die nicht mehr europäisch geprägt ist, sondern inzwischen größtenteils aus Nicht-Europäern besteht. Für uns in Europa und damit auch in Deutschland wird diese Situation in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine große Umstellung bedeuten. Ein wenig kann man schon erahnen, wie schwierig uns das fallen wird, wenn wir unseren derzeitigen Nicht-Europäischen Papst anschauen. Er ist so gar nicht klar strukturiert, wie wir es gerne hätten. Er hält sich nicht unbedingt an Redemanuskripte, sondern redet auf Pressekonferenzen eben mal so aus dem Bauch heraus – was die vatikanischen Kommunikationsbehörden nicht selten ins Schwitzen bringt.
Aber die Internationalität der katholischen Kirche als Weltkirche ist in unserer globalisierten Welt eine große Chance: Menschen aus vielen verschiedenen Kulturen und Nationen finden bei uns Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Beheimatung. Die Kirche kann viel zur Integration beitragen.
Die Kirche darf sich nicht auf sich selbst zurückziehen, sondern muss sich an der Diskussion sozialer oder ethischer Fragen aktiv beteiligen. Denn selbst viele Menschen, die sich längst von der Kirche distanziert haben, erwarten von Christen in kontroversen, lebenswichtigen Fragen eine Antwort, auch wenn sie sie nicht unbedingt teilen.
Die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen sollte verstärkt werden. Alles, was wir bereits zusammen tun können, sollten wir auch gemeinsam tun. Wir merken dies im Norden sehr stark, wenn es um die genannten Einmischungen des Staates in innerkirchliche Angelegenheiten geht. Wenn wir hier nicht mit der lutherischen Kirche, den Freikirchen und Pfingstkirchen zusammenarbeiten würden, wären wir auf verlorenem Posten. Ja, und sogar die Zusammenarbeit mit den muslimischen Verbänden und jüdischen Einrichtungen ist hier sehr wichtig.
Ein anderer Punkt: Das liebe Geld. Eine katholische Kirche, die Jahr für Jahr Mitglieder durch Kirchenaustritt und Tod verliert, wird in Zukunft eine ärmere Kirche sein. Das hat Auswirkungen. Im Norden kennen wir diese Situation zu gut. Würden wir nicht durch die Katholiken in Deutschland, durch das Bonifatiuswerk und die Ansgarwerke so großzügig unterstützt, könnten wir viele Projekte nicht durchführen. Wir sind eine arme Kirche in sehr reichen Ländern, abhängig davon, dass die Gläubigen freiwillig ihren Kirchenbeitrag leisten. Wir sind ständig Bittsteller bei Hilfswerken, wenn es um den Bau neuer Kirchen, Klöster und Gemeinderäume geht, die dringend gebraucht werden.
Auf der anderen Seite bringt diese Situation auch mit sich, dass das Engagement ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer sehr gross ist. Ohne sie ginge es gar nicht. Dort, wo es keine hauptamtlichen Mitarbeitenden gibt, müssen die Gemeindemitglieder helfen – und das wiederum führt zu einer hohen Identifikation mit der eigenen Gemeinde.
Der Gedanke, in Zukunft vielleicht eine „kleine Herde“ zu sein, kann erschrecken, aber es gibt viel Positives zu entdecken. Eine kleine Gemeinde, die aufgrund der nie ausreichenden Zahl von Priestern, keinen eigenen Pfarrer mehr hat und nicht jeden Sonntag den Gottesdienst vor Ort feiern kann, hat ein sehr viel tieferes Verhältnis zu ihren Priestern. Das ist mir schon sehr bald nach meiner Ankunft in Dänemark aufgefallen. Man ist einfach dankbar für seine Priester. Als im Jahr 2010 auch in Dänemark die Missbrauchswelle über uns hereinbrach und die Gläubigen verstört und empört, traurig und entsetzt erwischte, war bald auch klar, dass jetzt nicht alle Priester über einen Kamm geschert werden durften und gerade die kleine Anzahl von Priestern jetzt das Gebet und die Unterstützung der Gläubigen brauchte. Ich erinnere mich noch gut an die Chrisam Messe in diesem Jahr. Nachdem die Priester gegenüber dem Bischof Ihr Gehorsamsgelübde erneuert hatten, klatschten die Gläubigen spontan und lange Beifall.
So schmerzlich die Tatsache ist, dass nicht überall jeden Sonntag die Messe gefeiert werden kann, so hat diese Situation auch einen Nebeneffekt: Die Gläubigen feiern die Messe intensiver mit, sie haben eine Ehrfurcht und eine Wertschätzung, die – so beobachte ich es jedenfalls – in anderen Gegenden nicht immer gegeben ist.
Vielleicht ist es auch genau das, was mich persönlich so von dem Leben der Kirche in der Diaspora fasziniert: Wir sind wenige, ja. Aber die Wenigen sind mit ganzem Herzen dabei, sie haben eine bewusste Entscheidung getroffen, katholisch zu sein und sich für den Glauben zu engagieren. Und hierin sehe ich die große Hoffnung auch für die Kirche in Deutschland und Mitteleuropa. Jesus hat mit 12 Aposteln begonnen – aber sie haben im Herzen gebrannt für das Evangelium: Und er hat ihnen ein Wort und eine Versicherung mitgegeben: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.
Amen.