Nachlese – Fasten mit den Augen

Dr. Johannes Cladders / Fastenpredigt, St. Canisius, 18.02.2024


Verhüllungen im Kirchenraum – Fasten mit den Augen


Liebe Gemeinde,
als mit der Verhüllung des Pariser Triumphbogens das letzte Projekt des Künstlerpaars Christo und Jean-Claude im Jahr 2021 realisiert wurde (so wie ja schon 1995 das Reichstagsgebäude in Berlin verhüllt worden war), schrieb Benedikt Heider auf katholisch.de: „Was Christo kann, können Christen schon lange!“ Das war natürlich eine Anspielung auf die jahrhundertealte kirchliche Praxis, liturgisch relevante Gegenstände zeitweise zu verhüllen. Und vielleicht war es ja auch der unterschwellige Versuch, den medialen Rummel um Christo zu nutzen, um den Sinn der eigenen Verhüllungspraxis ins Bewusstsein des modernen Christen zu heben. Übrigens: Christo und Jean Claude hatten schon 1992 ein besonders spannendes Projekt entworfen, nämlich die vollständige Verhüllung des Kölner Doms. Schade, dass dieses Projekt nicht realisiert wurde! Es hätte sicherlich wunderbare Diskussionen ausgelöst.
Mit der Verhüllung muss es also offensichtlich etwas Besonderes auf sich haben, wenn wir sogar in unserer bilderversessenen Zeit zeitweise auf Bilder verzichten. Bilder in einem nie gekannten Umfang beeinflussen unser Empfinden, Denken und Handeln. Deshalb stellt sich auch hier im Kirchenraum die Frage, welche Bedeutung das Sehen hat und welche Bedeutung Bilder für unseren Glauben haben. Und umgekehrt: Welche Bedeutung haben Verhüllungen, also Sichtverhinderungen und Sichtverzicht?
Verhüllungen in Kirchenräumen finden in der Regel in der Fastenzeit statt und werden seit einigen Jahren gerne mit dem Mtto „Fasten mit den Augen“ etikettiert. Dieses Fasten mit den Augen ist ein Vorbereitungsritual. Es bereitet auf das große Fest Ostern vor. An diesem Fest wird das Verhüllte wieder enthüllt sein. Damit ahnen wir schon: die Enthüllung ist mindestens so wichtig wie die Verhüllung.
Verhüllung und Enthüllung sind ein fernes Echo auf die Texte der Bibel. Dort spielt das Motiv des Verhüllens und Enthüllens eine große Rolle: Das Christentum versteht sich als eine Religion, in der sich Gott selbst dem Menschen zeigt, also offenbar wird. Diese Offenbarung – lateinisch „revelatio „- ist übersetzt im Wortsinne eine ́Enthüllung, eine Selbstenthüllung des verborgenen Gottes. Die Erscheinung Gottes wird in der Heiligen Schrift mit Bildern der Verhüllung wie Rauch, Sturm, Wind, Feuer und Wolke bezeichnet. Diese Elemente der Verhüllung sind nicht selbst Gott, sondern verweisen auf seine verhüllte Anwesenheit. Der Schweizer Theologe Hans-Urs von Balthasar bezeichnete die Offenbarungsgestalt Gottes als „enthüllende Verhüllung“.
(Und nur am Rande bemerkt: Nicht nur das Christentum, sondern auch das Judentum und der Islam sind Offenbarungsreligionen, und auch dort spielen Verhüllungen eine wichtige Rolle.)
Verhüllungen in der Kirche werden mit Tüchern vorgenommen, lateinisch „velum“, zu Deutsch „Schleier“ oder „Segel“. Ein heute noch häufig verwendetes Velum ist z.B. das Kelchvelum; es verhüllt den Kelch, der für die Eucharistiefeier vorbereitet wurde.
Speziell bei den Verhüllungen in der Fastenzeit unterscheiden wir zwischen dem Passionsvelum und dem Fastenvelum. Das Passionsvelum ist das Tuch, das die Kreuze verhüllt, und zwar vom Passionssonntag bis zur Kreuzverehrung am Karfreitag. Und das Fastenvelum ist das Tuch, mit dem während der ganzen Fastenzeit der Altar bzw. der komplette Altarraum verhüllt wurde. Es wird auch Hungertuch genannt und manchmal auch Schmachtlappen. Hier kurz ein paar Erläuterungen zur Historie der beiden Velen, zunächst zum Passionsvelum:
Kreuze und Bilder in den Kirchen zu verhüllen, kam im frühen Mittelalter auf, zu einer Zeit, in der man das Kreuz als Sieges- und Lebenszeichen verstand: das Kreuz als Zeichen für den Sieg des Lebens über den Tod: Seien es sog. Triumphkreuze, die mit Gold, Perlen und Edelsteinen reich geschmückt waren, oder Kreuze mit einem Corpus Christi als König mit regelrechter Königskrone auf dem Haupt und wohl auch Kreuze mit dem Corpus und Dornenkrone. Sie alle wurden verhüllt und auch jene Bilder, die die Heilsgeschichte und den Sieg Christi und seine Verherrlichung betonten. Dieser Sieg Christi über den Tod, diese Heilsgeschichte, sollte erst mit der Enthüllung an Ostern, dem Fest der Auferstehung, sichtbar und gefeiert werden.
Hier in St. Canisius ist, dieser Tradition folgend, schon jetzt das Vortragekreuz verhüllt, das wir vorne zwischen den verhüllten Kerzenleuchtern sehen.
Ein Kruzifix in diesem Kirchenraum ist und bleibt übrigens unverhüllt: es ist das kreuzlose Kruzifix dort an der Hochwand, das den leidenden Christus zeigt: Es ist wohl schlicht unmöglich, ohne hydraulische Hebewagen dorthin zu reichen und die Verhüllung vorzunehmen. Diese Skulptur des leidenden Christus hing bekanntlich ursprünglich im Vorgängerbau dieser Kirche an einem sehr großen, sehr aufwändig dekorierten Kreuz über dem Altar.
Soweit zum Passionsvelum. Kommen wir nun zum Fastenvelum:
Die Geschichte des Fastenvelums bzw. der Hungertücher beginnt ebenfalls im Mittelalter. Die Fastenvelen verhüllten im Unterschied zu den Passionsvelen nicht nur Kreuzdarstellungen, sondern den gesamten Altarraum einer Kirche. Sie hatten in der Regel die Anmutung großer Vorhänge. Diese reichten vom Gewölbe bis zum Boden. Sie trennten den kompletten Chorraum blickdicht vom Rest der Kirche ab. Liturgisches Inventar, das durch den Vorhang nicht verdeckt werden konnte, wurde häufig gesondert verhüllt. Die Verhüllungszeit begann am 1. Fastensonntag, manchmal schon am Aschermittwoch. Die verhüllenden Tücher waren einheitlich weiß, schwarz oder violett; später wurden sie zunehmend bemalt, vor allem mit Motiven der Heilsgeschichte.
Die Gründe für die Entstehung der Hungertücher sind nicht eindeutig. Vermutlich geht ihr Ursprung auf eine Bußdisziplin zurück, und zwar folgendermaßen: Zu Beginn der Fastenzeit, nahmen die Christen, die sich eines öffentlich bekannten Vergehens schuldig gemacht hatten, die auferlegte Buße auf sich. Dazu gehörte der Brauch, die Büßer nach dem Wortgottesdienst, also vor Beginn der Eucharistiefeier aus dem Gottesdienst zu entlassen. Das war ein bedeutsames Opfer, denn nicht nur den Büßern, sondern allen Gottesdienstbesuchern war es natürlich sehr wichtig, die Mysterien am Altar schauend zu verfolgen. Mit der Einführung der Fastenvelen betraf dieser Blickentzug auf das Mysterium am Altar dann auf einmal nicht nur die Büßer, sondern ALLE Kirchenbesucher. Die Fastenvelen wurden so zu einem demonstrato ven Zeichen dafür, dass die ganze Gemeinde der Buße bedurfte. Die ganze Gemeinde verzichtete somit auf die visuelle Teilnahme am Mysterium des Gottesdienstes. Sie konnten der Liturgie nur noch lauschend, hörend folgen. Mit den Augen fastete sie.
Die Fastenvelen, also diese Vorhänge, wurden u.a. als eine Erinnerung an das alttestamentarische Bundeszelt verstanden. In diesem trennte ein Vorhang das Heilige vom Allerheiligsten, wo die Bundeslade stand, das Symbol für den Bund Gottes mit dem Volk Israel. Und für den mittelalterlichen Benediktinermönch Honorius Augustodunensis bedeutete der Vorhang die -Zitat: „Hülle des eingeschränkten Verstehens der Schrift“, die an Ostern entfalle, wenn „sich ihr geistiger Sinn den Gläubigen erschließe“ – analog dem Zerreißen des Tempelvorhangs im Augenblick des Todes Christi.
Soweit zu den Fastenvelen im Mittelalter. — Vor allem in der Zeit der Reformtion ging das Verständnis für das Brauchtum der Fastenvelen zurück. Erst im Zuge der Gegenreformation wuchs dann jedoch in den katholischen Gebieten das Schaubedürfnis der Gläubigen. So wurde z.B. die Elevation, also das Vorzeigen der Hostie, zentraler Bestandteil des Gottesdienstes, und das Bedürfnis nach bildlichen Darstellungen im Kirchenraum äußerte sich auch darin, dass die bemalten Hungertücher in nachreformatorischer Zeit wieder an Bedeutung gewannen. Grundsätzlich kann man festhalten, dass die bebilderten Hungertücher tendenziell mehr zeigten als verbargen und mehr offenbarten als verhüllten: sie hatten eine erzählerische und damit didaktisch-katechetrische Funktion. Über die Zeit verloren die Hungertücher jedoch zunehmend an Bedeutung und wurden erst 1976 durch das Konzept der Misereor Hungertücher wieder aufgegriffen.
Was haben nun die Verhüllungen in unserem Kirchenraum mit den Verhüllungen aus der älteren Kirchengeschichte zu tun? Das Konzept der Verhüllung der Kreuze vom Passionssonntag bis zur Kreuzverehrung in der Karfreitagsliturgie ist im Wesentlichen unverändert. Ganz anders verhält es sich mit den Fastenvelen. Es gibt hier im Raum keinen Vorhang, der die Gemeinde vom Altarraum separierte. Die Gemeinde wird nicht visuell vom Gottesdienst ausgeschlossen wie seinerzeit im Mittelalter. Und hier im Kirchenraum ist das Inventar ausschließlich einzeln verhüllt.
Was können wir in Anbetracht dieser Verhüllungen unter „Fasten mit den Augen“ verstehen? Auf der Website der Gemeinde von St. Canisius ist dazu folgendes zu lesen: „Wir möchten Sie in dieser Fastenzeit einladen, die Kirche neu zu entdecken. Fasten wir mit den Augen! …Und erleben wir an Ostern eine Auferstehung unserer Kirche vor unseren Augen!“ Was ist damit gemeint? Geht es darum, den physischen Kirchenraum neu zu sehen und die Bedeutung des Liturgieraums für unsere Glaubenserfahrung neu zu entdecken? Geht es hier also um eine religiöse Erlebensqualität oder gar Glaubenserfahrung, die visuell simuliert wird? Was bedeuten uns dabei die einzelnen verhüllten Gegenstände? Und was kann „Auferstehung der Kirche“ in diesem Zusammenhang bedeuten? Fragen über Fragen!
Die meisten von uns kennen die verhüllten Objekte. Sie wissen also, was sie sehen könnten. Sie wissen also auch, worauf sie beim Fasten mit den Augen verzichten. Aber: kennen wir eigentlich wirklich die verhüllten Gegenstände? Welche sind uns wichtig, welche weniger? Was bedeuten sie uns? Bekommen sie durch ihre Enthüllung eine neue Bedeutung?
Sie, liebe Gemeindemitglieder, können, wenn unser Auferstehungsbild aus der Renaissance wieder enthüllt sein wird, an sich selbst diesen Test machen, den Test der Wirkung und Bedeutung eines Bildes der Auferstehung – eines Bildes, das im Übrigen bei der Gründungsfeier unserer neuen Pfarrei „Christi Auferstehung“ keinerlei Beachtung fand.
Aus Zeitgründen kann ich nur noch ein verhülltes Objekt erwähnen: Unser Altarbild, die „Golden Fields“. Hier ist ein Bild verhüllt, das doch selbst eine Verhüllung zu sein scheint, nämlich ein goldener Vorhang vor dem nichtdarstellbaren Geheimnis Gottes.
Ich komme zum Schluss: Die Verhüllungen um uns herum mit ihren schönen, schlichten, weißen Stoffen und den sorgsamen Verschnürungen muten an wie Geschenke. Es kommt jetzt darauf an, dass wir die Geschenke annehmen und zu Ostern öffnen, das Fasten mit den Augen beenden und die Kirche neu sehen: nicht nur ihre sichtbare Seite, sondern vor allem auch das Unsichtbare unseres Glaubens – und vielleicht erleben wir ja eine Art Offenbarung.


Diese Fastenpredigt basiert im Wesentlichen auf der Lektüre folgender Publikationen (dort finden sich vielfältige weiterführende Literaturhinweise):
Altmann, M.: Die Kreuzverhüllung: Damit das Wesentliche sichtbar wird: https://www.katholisch.de/artikel/21276-die- kreuzverhuellung-damit-das-wesentliche-sichtbar-wird
Döring, A.: Verhüllungen im Sakralen Raum. Fastentücher in Rheinland und Wesphalen im 20. und 21. Jahrhundert. 2022
Emminghaus, J.H.: Fastentuch, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. VII (1979), Sp. 826–848; auch in: RDK- Labor= https://www.rdklabor.de/w/?oldid=89370>
Heider, B.: Kunst der Verhüllung: Was Christo kann, können Christen schon lange: https://www.katholisch.de/artikel/31293- kunst-der-verhuellung-was-christo-kann-koennen-christen-schon-lange
Meiering, D.: Verhüllen und Offenbaren: der verhüllte Reichstag von Christo und Jeanne-Claude und seine Parallelen in der Tradition der Kirche. 2006
5