Lesen Sie im Folgenden die – leider ungehaltene – Predigt von Pfarrerin Luitgardis Parasie, Northeim
Predigt am 15.3.2020 in St. Canisius, Berlin, über Markus 9,24
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben“
Liebe Gemeinde,
„Abbruch – Umbruch – Aufbruch: Glaube und Zweifel in brüchigen Zeiten“ heißt das Thema eurer Fastenpredigten, in die ich mich heute mit einreihe. Sehr gerne, vielen Dank für die Einladung an unseren Freund Pater Manfred Hösl, den wir aus Göttinger Zeiten kennen.
Abbruch, Umbruch und Aufbruch habt ihr hier in St. Canisius ganz buchstäblich erlebt: Eure Kirche wurde 1921 erbaut, vor 99 Jahren, das ist für eine Kirche ja noch ein geradezu jugendliches Alter. Aber sie wurde bereits zweimal komplett zerstört, 1943 durch Bomben, und dann, 1995, durch einen Großbrand, ausgelöst durch das Zündeln von 2 Jugendlichen. Jedes Mal habt ihr eure Kirche wieder neu aufgebaut, und glaubt mir, ich weiß, was das bedeutet, denn auch meine Gemeinde hat unsere Kirche vor einigen Jahren komplett erneuert, und es war unglaublich viel Arbeit damit verbunden. Aber auch sehr viel Energie und Aufbruchstimmung, wenn der Bau dann vorangeht, wenn Menschen sich zusammentun und mitdenken, spenden, sich einsetzen für ihre Kirche und für Gott. Jetzt ist bei uns alles komplett erneuert und wunderschön geworden, außen und innen. Aber ganz ehrlich, manchmal trauere ich der Aufbruchstimmung der Bauzeit ein bisschen nach. Ich weiß nicht, ob ihr das hier in St. Canisius nachvollziehen könnt. Jedenfalls, Eure Kirche hier ist echt der Hammer, ich bin begeistert und sehr beeindruckt von diesem modernen innovativen Gebäude.
„Abbruch – Umbruch – Aufbruch: Glaube und Zweifel in brüchigen Zeiten“ – das betrifft jedoch nicht nur das Kirchengebäude. Als ihr, liebe Freunde, dieses Thema ausgewählt habt, hattet ihr noch keine Ahnung, WIE brüchig unsere Zeit ganz aktuell sein würde. Da bricht gerade jede Menge ab und um und geradezu stündlich erschüttern uns neue Meldungen über das Corona-Virus. Die Flüchtlingskrise in der Türkei und Griechenland tritt da ziemlich in den Hintergrund. Glaube und Zweifel in brüchigen Zeiten – in der gegenwärtigen Situation sind viele mehr beim Zweifel als beim Glauben. Keine einzige Rolle Toilettenpapier gab es neulich mehr in unserem großen Supermarkt, kein Mehl und keine Nudeln. „Sie glauben gar nicht, was hier los war“ sagte die Kassiererin. Und dabei scheint es allzu oft nach dem Motto zu gehen: Jeder ist sich selbst der Nächste. Von Glauben keine Spur. Manchmal wird der Unglaube sogar militant beworben:
Mit einer Freundin war ich im Dezember zu einer Lesung mit dem Literaturkritiker Dennis Scheck. Bekannt aus Funk und Fernsehen und sehr belesen. Er empfahl wärmstens und kenntnisreich ca 40 Bücher. Als – wohlgemerkt – Weihnachtslektüre hatte er einen besonders heißen Tipp parat: Richard Dawkins, Atheismus für Anfänger. Das meinte der Mann ernst! Mir hat es echt die Sprache verschlagen, wie unverhohlen hier für den Atheismus Werbung gemacht wurde.
Hilft Atheismus bei Verzweiflung? Jedenfalls nicht dem Vater des schwerkranken Jungen. Seine Geschichte steht im Markusevangelium Kapitel 9. Die letzte Hoffnung dieses Vaters ist Jesus. Detailliert beschreibt er ihm die Krankheit seines Sohnes. „Ein Geist hat meinen Sohn befallen, und wo er ihn erwischt, da reißt er ihn, er schäumt und knirscht mit den Zähnen und wird starr.“ Und Jesus fragt nach: „Wie lange hat er das schon?“ Und der Vater antwortet: „Von Kind an. Und oft hat er ihn ins Wasser oder Feuer geworfen, um ihn umzubringen.“ Dem heutigen Hörer legt sich sofort der Verdacht nahe, dass das Kind unter Epilepsie leidet. Tatsächlich besteht da ja oft Lebensgefahr, weil die Kranken sich bei so einem Anfall schwer verletzen können. Wer von uns Vater oder Mutter ist, kann sich in die große Angst des Vaters hineinversetzen. Ein schwerkrankes Kind: Da hat man keine ruhige Sekunde und ist mit den Nerven am Ende. Der Vater hat schon alles Mögliche versucht, hat sich auch an die Jünger von Jesus gewandt, aber sie konnten nicht helfen. Und nun bleibt nur noch Jesus als letzte Hoffnung. „Kannst du was, so erbarme dich unser und hilf uns“, fleht der Vater. Es klingt ja fast provozierend. Deine Jünger haben es nicht gebracht, und du, kannst du was? Wie sehr würde er sich wünschen, dass Jesus das kann. Aber er ist sich unsicher. Und Jesus antwortet eigentlich mit einer Gegenprovokation und sagt: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt.“ Ach Jesus, wenn das mal so einfach wäre. Klar, wer wünscht sich nicht einen Glauben, der Berge versetzt. Aber wo kriegt man den her? Und heißt das, meine Gebete werden nicht erhört, wenn ich nicht richtig glaube?
Tatsächlich ist das manchmal von frommen Christen zu hören: Du glaubst nicht genug, darum tut Gott nichts. Die Frau eines Freundes war schwer an Krebs erkrankt. Fromme Mitchristen warfen ihm vor: Unsere Gebete um Heilung werden nicht erhört, weil dein Unglaube im Weg steht. Liebe Brüder und Schwestern, das ist Quatsch. Denn Glaube ist ja keine Leistung, die wir Gott erbringen. So nach dem Motto: Je mehr wir uns anstrengen zu glauben, desto eher tut Gott was. Nein, Glaube ist keine immense Kraftanstrengung unsererseits das Unwahrscheinliche für möglich zu halten. „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“ – mit diesem Satz stellt Jesus sich selber vor. Er ist der, der glaubt, der in einer engen Beziehung zu seinem himmlischen Vater steht. Der vollkommen auf Gott vertraut und darum weiß, was dran ist. Darum ist ihm, Jesus, alles möglich. Und die Antwort des Mannes ist genau angemessen: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Bei Jesus bist du mit deinen Zweifeln, mit deinem Unglauben, mit deinen Fragen genau richtig. Hilf meinem Unglauben. Ich habe dir nichts zu bringen, Jesus, noch nicht einmal starken Glauben. Nicht nur mein Sohn braucht Hilfe, Jesus, auch mein Glaube braucht Hilfe.
Liebe Gemeinde, den Glauben kann man gar nicht haben in dem Sinne, wie man ein Auto oder ein Handy besitzt. Klar, an manchen Tagen ist mein Glaube stark und furchtlos. An anderen Tagen aber kann ich nur sagen: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr. Nichts hab ich zu bringen, alles, Herr, bist du. Der Glaube wird nicht erarbeitet, sondern er wird dir geschenkt. Wenn der englische Schauspieler Nigel Goodwin darüber erzählt, wie er Christ wurde, sagt er: „Damals, als der Glaube zu mir kam.“
Nicht nur dieser Vater mit seinem kranken Kind, sondern auch dein und mein Glaube braucht Hilfe. Und zwar jeden Tag neu. Es ist nicht schlimm, wenn du zweifelst. Wenn du manchmal sogar an Gott irre wirst. Schlimm ist, wenn du damit alleine bleibst. Der Vater wendet sich an Jesus: Hilf meinem Unglauben.
Frau Winter und ihr Mann wollten nicht alleine bleiben mit ihrer Angst und Sorge. Sie haben mir erlaubt, dass ich ihre Geschichte erzähle. Eines Tages rief Frau Winter mich an. „Mein Mann liegt schon seit 2 Wochen mit hohem Fieber in der Uniklinik. Die Ärzte vermuten eine Herzbeutelentzündung. Er darf sich kaum bewegen, aber sie kriegen das Fieber nicht runter. Er hat große Angst, manchmal fühlt er sich von Gott verlassen, und er möchte gern das Abendmahl.“ Also die heilige Kommunion. – Was ich übrigens ein viel schöneres Wort finde als unseren protestantischen Begriff Abendmahl. Denn Kommunion heißt Gemeinschaft, und genau das ist es ja: Eine tiefe Gemeinschaft mit Gott. – Ich sagte meinen Besuch bei Ehepaar Winter für den nächsten Tag zu.
Die beiden erwarten mich schon. Frau Winter ist ganz feierlich
schwarz gekleidet. Sie hat alles sorgsam vorbereitet: Eine weiße Serviette liegt auf dem Nachttisch, eine Kerze brennt, und ein kleines Blumensträußchen steht auch da. Es herrscht eine erwartungsvolle Atmosphäre. Frau Winter hatte bei ihren Vorbereitungen im Foyer einen Arbeitskollegen ihres Mannes getroffen und sich mit ihm unterhalten, dann hatte sie gesagt: „So, ich muss jetzt hoch, die Pastorin kommt gleich, Helmut will das Abendmahl.“ Darauf hatte er sie ganz entsetzt angesehen und gesagt: „Na, nun macht mal keine Sachen, so weit ist es doch wohl noch nicht.“ Die allgemeine Einstellung bei uns in Südniedersachsen zum Krankenabendmahl scheint zu sein, dass es so etwas ist wie die „Letzte Ölung“ und von daher ein Zustand, den es möglichst zu vermeiden gilt. Herr und Frau Winter aber sehnen sich nach Gottes Nähe in ihren Sorgen und Zweifeln. Gerade weil der Glaube zu schwinden droht, sehnen sie sich nach Vergewisserung: Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Wir beten zusammen Psalm 103: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Ich spreche die Einsetzungsworte und reiche ihnen das Abendmahl. Sie sind danach ganz getröstet und voller Frieden.
Ein paar Tage später rief mich Frau Winter wieder an: „Nach dem Abendmahl fühlte sich mein Mann viel kräftiger, und am nächsten Morgen war zum ersten Mal seit mehr als 2 Wochen das Fieber runter. Danach ging es ihm jeden Tag ein bisschen besser.“ Frau Winter und ihr Mann führten das ganz klar auf die Begegnung mit Gott im Abendmahl zurück.
Ja, manchmal kann Glaube tatsächlich Berge versetzen und hilft gesund zu werden und zu leben. Winters feierten einige Zeit später in großer Runde den 40. Hochzeitstag. – Auch der epilepsiekranke Junge aus der Bibel wurde von Jesus geheilt.
Manchmal hilft Glaube leben – manchmal hilft er sterben. Und das war meine nächste Erfahrung mit dem Krankenabendmahl.
Die alte Dame konnte nicht mehr in die Kirche kommen, sie war über 80, konnte nicht mehr gut laufen und hörte schlecht. Bei einem meiner Besuche sagte die Tochter: „Mutter vermisst so, dass sie nicht mehr in die Kirche kommen kann, besonders das Abendmahl fehlt ihr.“ „Kein Problem“, sagte ich, „das Abendmahl können wir auch hier zu Hause feiern.“ Wir vereinbarten einen Termin. Die alte Dame war in Schwarz gekleidet; sie hatte noch eine alte Nachbarin dazu eingeladen, die ebenfalls in Schwarz war, und auch die Tochter hatte sich schick angezogen mit weißer Bluse und Rock. Auch das Zimmer war vorbereitet mit weißer Tischdecke und Kerze. Ich war sehr davon beeindruckt, wie diese Menschen sich rein äußerlich auf das Abendmahl vorbereiteten, welche Würde sie ihm beimessen. Die alte Dame konnte rein akustisch sicherlich nur die Hälfte der Psalmen und Gebete verstehen, aber das machte nichts, denn das meiste konnte sie sowieso auswendig, und das Vaterunser sprach sie ganz laut mit.
Am nächsten Morgen um 7 klingelte mein Telefon. Es war die Tochter der alten Dame. „Mutter ist heute Nacht um 5 Uhr eingeschlafen.“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Heute Nacht? Ihr ging es doch so gut gestern.“ „Ja, das war auch so“, erwiderte die Tochter, „sie war ganz fit, aber gestern Nachmittag ist sie plötzlich zusammengesackt. Der Arzt konnte nicht viel machen, und ins Krankenhaus wollte sie auf keinen Fall. Ich habe dann meine anderen Geschwister zusammengerufen, und wir sind bei ihr geblieben. Jedoch gegen 2 Uhr nachts schickte sie uns alle aus dem Zimmer. Sie wollte ihre Ruhe haben. Schlafen konnte ich sowieso nicht, und zwischendurch habe ich immer wieder nach ihr geguckt. So gegen 5 Uhr ist sie ganz friedlich eingeschlafen. Aber mit dem Abendmahl gestern, ich weiß auch nicht, aber es ist so, als ob sie das noch gebraucht hätte.“
Liebe Gemeinde, um noch mal auf den Anfang zurückzukommen: Nein, Atheismus hilft ganz sicher nicht, wenn alles abbricht und Angst sich ausbreitet, er hilft nicht bei Verzweiflung, und er hilft schon gar nicht sterben. Glaube aber hilft leben, hilft hoffen und handeln, und er hilft sterben. Lasst uns für uns und alle Verantwortlichen beten, dass sie in diesen brüchigen Zeiten das Richtige tun und wir erkennen, was Gott uns dadurch sagen will. Lasst uns um Phantasie beten. Damit wir innovative Wege finden, wie wir Menschen den Trost des Glaubens zusprechen können.
Und wenn dein eigener Glaube von Zweifeln erschüttert wird, das macht nichts. Denn Jesus reicht ein Glaube, der so klein ist wie ein Senfkorn. Bete einfach wie der Vater des kranken Jungen: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“