Fastenhirtenbrief: „Weniger ist mehr“

Liebe Schwestern und Brüder!

„Maßlos!“ – Viele Menschen stehen unter einem für sie schier maßlosen Druck in ihrem Beruf, in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, in ihrer Familie: Erwartungen über Erwartungen, Überforderung gefühlt von morgens bis abends.

„Das Maß ist voll!“ – So hören wir manchmal die Aufschreie anderer Menschen gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der eigenen Familie, der Politik, den Kolleginnen und Kollegen im Beruf und auch gegenüber der Kirche. Wenn für Menschen das Maß an Enttäuschung, an Schmerz, Verzweiflung und Leid voll ist, werden sie Maß-los. Sie fühlen sich ausgegrenzt, ohnmächtig, nicht verstanden.

„Wutbürger“, „Wutchristen“, „Wutmenschen“: Wie maßlos ist manchmal ihre Wut, ihre Kritik und ihre Sprache. Auf maßlose Anforderungen folgen maßlose Enttäuschungen und Wut.

„Maßlos!“ – Andere Menschen sind maßlos geworden in ihrem Streben nach Karriere, nach Anerkennung, in ihrer Konsumsucht oder in ihrem Umgang mit der Schöpfung. Oft sprengen sie alle Ordnungen, indem sie maßlos leben und die Gesellschaft in ihrem Verhalten und mit ihren Parolen spalten.

 „Maßlos!“ – Wieder andere suchen die Erfüllung ihres Lebens in der Maßlosigkeit selbst. Wir müssen das Leben in höchstem Maße hier und jetzt ausleben. Außer der kurzen Zeitspanne hier auf Erden haben wir ja sonst nichts; tot ist tot, Schluss ist Schluss. Das Streben, möglichst viel zu erleben und nichts zu verpassen, wird zum Leitfaden der Lebensgestaltung. Für viele wächst so aus der Armut an Lebenssinn der Fanatismus. Aus fehlender Anerkennung folgt die Gier nach Bestätigung. Die Armut an Gewissheit bezüglich der Werte und der geltenden Regeln wird zur Sucht nach Sicherheit. Und die Armut an Mitteln für den Lebensunterhalt schafft die Gier nach Reichtum. Viele leben maßlos, sie verbrauchen maßlos, sie beuten maßlos aus, sie haben jedes Maß für ihr Leben verloren und oft merken sie nicht, wie ihre Maßlosigkeit ihr Leben zerstört – und das ihrer Mitmenschen. Sie werden Opfer ihrer Maßlosigkeit.

Wie sollen sie auch Maß halten, wenn ihr Leben keinen Maßstab hat? Was heißt dann schon maßvoll oder maßlos? Wie findet man dann wieder ein Maß und einen Maßstab? Vielleicht ist diese Maßlosigkeit vieler Menschen hinsichtlich Konsum und Zerstreuung eine Folge ihrer vergeblichen Suche nach dem Sinn ihres Lebens. Einem Sinn, der ihrem Leben Maß und Maßstab gäbe. Woran soll ich Maß nehmen, wenn es nichts gibt, woran ich mich messen, mich halten kann und was mich hält?

Deshalb ist es wichtig, sich immer wieder die Frage nach dem eigenen Maß und den eigenen Maßstäben zu stellen. Ich glaube, das ist sinnvoll und hilfreich, um selbstkritisch zu reflektieren und um wieder bewusster zu leben: mit neuem Bewusstsein maßvoll zu denken, zu sprechen und zu handeln.

Jedem Menschen steht nur eine begrenzte Zeit mit begrenzten Möglichkeiten zur Verfügung, sein Leben zu verwirklichen. Deshalb ist es wichtig – so denke ich –, dass jede und jeder für die ihm oder ihr zur Gestaltung anvertraute Zeit Maß nimmt, wie sie oder er diese Zeit gestalten will, was wichtig und bedeutsam ist, wofür man mehr Zeit investieren will und wofür weniger.

Jeder Mensch kann für seine Zeit Maßstäbe setzen.

Wer sich aber nicht entscheiden will für das eine und gegen das andere, wer angeblich unentschieden leben oder alles „mitnehmen“ und nichts verpassen will, der wird schnell erfahren, wie sehr er getrieben wird von anderen Menschen oder von gesellschaftlichen Strömungen. Bewusst in den eigenen Entscheidungen Maß zu nehmen und zu halten, ist die Kunst des Lebens. Dies bedeutet Konzentration auf das, was mir wichtig und bedeutend ist. Denn das gibt mir den Freiraum, mich stärker als bisher einzubringen. Weniger ist dabei mehr. Reduziert und konzentriert zu leben, ist die immer wiederkehrende Aufgabe eines jeden Menschen, der bewusst mit seiner Lebenszeit umgehen will. Wir sollten Maß halten mit unserer begrenzten, uns anvertrauten Zeit und mit unseren Begabungen und Kräften – dann haben wir mehr davon.

Im Evangelium des ersten Fastensonntags (Mt 4,1-11) begegnen wir Jesus, der Maßstäbe setzt in seinen Entscheidungen. In der Versuchungsgeschichte lässt er sich nicht vom Satan verführen, maßlos zu leben. Der Teufel zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.“ Für Christus ist und bleibt aber Gott und niemand sonst das Maß aller Dinge. Christus widersetzt sich dem maßlosen Angebot des Versuchers, denn er weiß sein Leben von Gott her erfüllt und nicht vom eigenen Reichtum, nicht von Ansehen oder Macht. Wer würde Widerstand leisten, wenn ihm die ganze Welt zu Füßen gelegt würde? Wer würde widerstehen, wenn ihm versprochen würde, er könne alles verändern, ja selbst Steine in Brot verwandeln? Wer möchte nicht durch das Leben kommen ohne auf Widerstände zu stoßen, die uns auf das Maß des Menschenmöglichen reduzieren? Wer würde wie Jesus widerstehen, wenn ihm versprochen würde, in dieser Welt ganz groß herauszukommen und von allen bewundert zu werden?

Jesus genügt es, seinen Gott und Vater hinter sich, über sich und in sich zu wissen. Wer sich von Gott umgeben glaubt und in der Gemeinschaft mit ihm lebt, der braucht sich nicht mit dem Mittelmäßigen dieser Welt zufrieden zu geben, das unserem Leben letztlich keine Erfüllung zu geben vermag. So lautet die Botschaft Jesu in der Wüste. Als Christen sind wir überzeugt, dass Gottes Liebe jedes menschliche Maß übersteigt. Unser Leben ist im wörtlichen Sinn über die Maßen von Gott gefüllt, getragen und beschenkt. Deshalb sollten wir uns auch verabschieden können von so vielen Verführungen, die uns nicht die Erfüllung des Lebens schenken können.

Maßlos sein erzeugt auch Ungerechtigkeit anderen Menschen gegenüber. Sie können schnell zu unserem Gebrauchsgegenstand werden, den wir für uns ausnutzen. Wer maßvoll lebt, gibt Acht auf den anderen, achtet in allen Lebensvollzügen seine eigenen Grenzen und die seines Mitmenschen. Er setzt sich nicht als das Maß für den anderen Menschen. Wer maßvoll lebt, nimmt Maß an Gott. Er nimmt das Kreuz als Maßstab für sein Leben an wie Christus, der mit seiner Auferstehung alle Maßstäbe sprengte.

Maßvoll mit einem bewussten Maßstab zu leben hilft uns – das wissen wir auch aus unserer Lebenserfahrung – ausgeglichen, gesund und kraftvoll zu leben zwischen vielerlei Polen unseres Lebens, zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen In-Gemeinschaft-Sein und in der oft notwendigen Ruhe des Alleinseins, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Genuss und Askese. Wir brauchen das Leben und den Ausgleich zwischen diesen und anderen Spannungen des Lebens.

„Im Maße liegt die Ordnung. Jedes Zuviel und Zuwenig setzt anstelle von Gesundheit die Krankheit“, hat der Priester und Arzt Sebastian Kneipp einmal geschrieben. „Halte Maß in allen Dingen!“ heißt es im alttestamentlichen Buch Jesus Sirach (33,30). Das gilt für den Einzelnen wie auch für unser gesellschaftliches Miteinander, damit unser Leben nicht in Mittelmäßigkeit oder Maßlosigkeit verrinnt.

Ich erbitte Gottes Segen für Ihren Weg durch die vor uns liegende Zeit des Maßnehmens, die Fastenzeit, hin zum Fest des unermesslichen, erfüllten Lebens, zum Osterfest!

Ihr
Dr. Heiner Koch
Erzbischof von Berlin

PDF zum herunterladen.