Brief aus Indien an die St. Canisius-Gemeinde
(von Ann-Kristin und Marie)
Liebe St. Canisius-Gemeinde,
seit gut einem Monat sind wir nun im Andhra-Loyola-College (ALC) der Jesuiten in Vijayawada und geben Englischunterricht an einer Grundschule und Deutschunterricht für Studenten am Institut für Technologie und Ingenieurwissenschaft des ALC. Im Folgenden möchten wir von unseren Erlebnissen und Erfahrungen, die wir hier in Indien gemacht haben berichten.
Unsere Unterbringung:
Wir teilen uns ein Gästezimmer mit Bad bei den Jesuiten und fühlen uns hier trotz regelmäßiger Stromausfälle, kaltem Wasser und vielen Moskitos sehr wohl. Da es in Indien üblich ist, die linke Hand als Klopapierersatz zu verwenden und Klopapier kaum verwendet wird, ist es nicht leicht an Toilettenpapier heranzukommen. Gegessen wird dagegen mit der rechten Hand, was wir selber schon probiert haben und dabei feststellten, wie schwierig es ist, mit nur einer Hand Curry zu essen. So sind wir dann bald wieder auf Besteck umgestiegen.
Was wir so erleben:
Wir werden sehr gut von den Jesuiten umsorgt. Pater Bala, der Gründer von YES.J, ist unser Ansprechpartner und nimmt uns oft zu Veranstaltungen von Schulen/Colleges in der Umgebung mit. Inder sind sehr feierlustige Menschen, sodass fast jede Woche irgendetwas los ist. Auf dem College besuchten wir einen Tanzwettbewerb, den alljährlichen College Day, wo die Projekte des Colleges, auch unser Freiwilligendienst, vorgestellt wurden, den Sports Day und einen Hostel Day. Bei jeder dieser Veranstaltungen halten Ehemalige und Ehrengäste lange Reden über unterschiedlichste Themen. Bei einigen Festivals wurden auch traditionelle indische Tänze aufgeführt. An der ALCAA-Grundschule waren wir beim Republic Day, wo die Schüler sangen, Tänze und einen Soldatenmarsch aufführten und die indische Flagge gehisst wurde.
Wir werden von den Patres auch in Projekte des Colleges eingebunden. Letzten Sonntag spielten wir in einem Theaterstück über die Wunder Jesu mit. (Marie u.a. als Holy Mary, Ann-Kristin als tote Tochter des Jairus, die wiedererweckt wird). Das Stück wurde beim sog. „Gunadala Mary Mathafestival“ aufgeführt, wo tausende Gläubige auch von außerhalb nach Vijayawada kamen. Allgemein fällt uns auf, dass die Christen in Indien ihren Glauben sehr viel intensiver leben. Es gibt in Vijayawada viele christliche Schulen, Universitäten, Schwesternorden und Gemeinden (trotz eines offiziellen Christenanteils von 2,3 Prozent in ganz Indien, wobei es auch aus politischen Gründen eine relativ große Dunkelziffer gibt). In Indien leben Hindus, Muslime und Christen zusammen. Unser Eindruck ist, dass sie sich größtenteils respektieren. Spannungen haben wir überhaupt nicht erlebt.
Die indische Mentalität:
Inder sind sehr gastfreundliche Menschen, sodass wir schon von einigen Lehrerinnen zum Essen eingeladen, gleich der ganzen Großfamilie vorgestellt und mit reichlich selbstgekochten indischen Köstlichkeiten verwöhnt wurden. Man wird von allen Seiten sehr umsorgt, was manchmal auch anstrengend sein kann. Da wir als Weiße sehr auffallen, bleibt nichts, was wir tun, unbemerkt. Daher bemühen wir uns besonders, was zum Beispiel Kleidung oder Verhaltensmuster angeht, uns an die indische Lebensweise anzupassen.
Auch auf dem örtlichen Markt haben uns die Lehrerinnen mitgenommen, wo man von Bananen bis Ohrringen, Saris und Streetfood-Ständen beinahe alles finden kann, was das Herz begehrt. Jedes Mal wenn wir dem abenteuerlichen Verkehr (dem man sich beim Überqueren einer Straße stellen muss) begegnen, sind wir froh, wenn wir heil auf der anderen Seite ankommen. Wir hatten mit selbigen Lehrerinnen auch sehr interessante und offene Gespräche über Heirat und Ehe in Indien (90% der Ehen in Indien sind arrangiert) und die indische Familienmentalität. Von Kindern wird zum Beispiel erwartet, dass sie, wenn sie Geld verdienen, dieses ihren Eltern geben. Kinder schlafen im selben Raum wie die Eltern und Kinder sind auch nach der Volljährigkeit von ihren Eltern bis zur Heirat abhängig. Trotz kleiner Wohnungen und ärmlicher Lebensverhältnisse werden wir ständig eingeladen und beschenkt. Wir haben erfahren, wie knapp viele hier nur über die Runden kommen und zum Beispiel Fleisch für viele Familien etwas Besonderes ist. In solchen Situationen fällt einem dann besonders auf, wie viele in Deutschland ein sehr privilegiertes Leben führen. Es fällt auf, dass Inder ihr Land und ihre Kultur sehr stark schätzen und bewahren. Dazu gehört die traditionelle Lebensweise und das indische Essen, die farbenfrohen Saris und Schals und der viele Schmuck der Frauen. Westliche Kleidung oder nichtindisches Essen sieht man selten. Die jüngere Generation allerdings ist im Wandel, viele haben so auch vor der Ehe und außerhalb ihrer Kaste Beziehungen. Kastendenken ist nämlich vor allem in der älteren Generation noch stark verbreitet und wie wir gelernt haben, gehören dazu nicht nur die 4 Kasten des Hinduismus, sondern auch Beruf, sozialer Status und sogar Hautfarbe (weiß ist ein Schönheitsideal). Wenn wir in der Stadt oder auch auf dem Campus unterwegs sind, werden wir oft angestarrt, manchmal auch begrüßt, angesprochen und nicht selten nach Selfies gefragt. Andere Ausländer sieht man in diesem Teil Indiens kaum bis gar nicht.
Inder beherrschen viele Sprachen, die meisten können drei oder mehr Sprachen fließend sprechen. Und oft hört man Mischungen von Englisch, Telugu (Sprache von Andhra Pradesh) oder anderen regionalen Sprachen. Die Inder, die wir kennengelernt haben, arbeiten sehr hart und fleißig und haben sehr genaue Zukunftspläne, stehen sehr früh auf und gehen dafür tendenziell eher früher ins Bett. Viele wollen Soldaten werden oder Ingenieurswesen, Science, Informatik oder Mathematik studieren. Alle Studenten, die wir bisher getroffen haben, nehmen ihr Studium im Gegensatz zu einigen Studenten in Deutschland sehr ernst. Oft geht es hier aber auch sehr spontan zu. So wurden wir schon einige Male kurzfristig auf eine Veranstaltung mitgenommen und bei unserem Theaterstück wurde uns 2 Minuten vor unserem Auftritt eine andere Rolle zugewiesen. Uhrzeiten werden auch nicht so genau genommen. Mit 30 Minuten Verspätung muss man bei Verabredungen und Veranstaltungen immer rechnen.
Das College:
Das Collegegelände ist ziemlich groß, sehr grün und hat ein buntes Tierleben mit Papageien und Streifenhörnchen. Es gibt über 6000 Studenten, 4 Hostels und diverse Sportangebote von Taekwando bis Schießen oder sogar Bodybuilding. Das College unterhält viele unterschiedliche Projekte und hat regelmäßig soziale und kulturelle, Sport- oder Umweltveranstaltungen. Unterrichtet werden Ingenieurswesen, Mathematik, Physik, Chemie, Informatik, Botanik und Zoologie, Volkswirtschaft und englische Literatur. Die“ ALCAA English Medium School“, eine Grundschule, befindet sich auch auf dem Gelände.
ALCAA-School (Grundschule):
Wir arbeiten montags bis samstags. Um 9:10 beginnt unser Tag an der ALCAA (Andhra Loyola College Allumni Association) -English-Medium-School mit einer Versammlung aller Schüler. Die Kinder stellen sich in Reihen auf, während zwei Schüler vorne Befehle geben: „stand in ease-attention“. Dann werden die indische Nationalhymne und die Schulhymne gesungen sowie gebetet. Die Schule wurde von ehemaligen ALC-Absolventen gegründet, wird von den Jesuiten betreut, hat jeweils eine Klasse von 1-5 und richtet sich vor allem an Kinder aus bildungsarmen Familienhintergründen. Viele der Kinder sind die erste Generation, die eine Schulausbildung genießen darf. Alle Schüler müssen Schuluniform tragen und werden sehr streng erzogen. Von klein auf wird den Kindern nahegelegt, Lehrer, Eltern, alte Menschen und Gäste besonders zu respektieren. So werden wir jeden Morgen zunächst von den Schülern begrüßt, die angelaufen kommen, wenn sie uns sehen und uns „sister“ oder „madam“ nennen. In den Pausen spielen wir oft mit den Kindern „Carambole“ (ein indisches Brettspiel, auch Fingerbilliard genannt). Die Schüler sind alle sehr höflich, interessieren sich für unsere Familien und waren total begeistert, als wir ihnen Bilder von unserer Familie und aus Deutschland gezeigt haben. Wenn einer von uns z.B. auch nur für 5 Minuten steht, kann man sicher sein, dass ein Schüler in den nächsten 20 Sekunden einen Stuhl herbeiträgt. Marie unterrichtet die 1.-5- Klasse täglich abwechselnd 3 Stunden Englisch, Ann-Kristin die 3.-5. Klasse, wobei zwei Stunden Englisch und eine Kung Fu ist.
Wir unterrichten englische Grammatik, die verschiedenen Zeitformen und lesen englische Texte und Gedichte, zu denen wir den Schülern Fragen stellen und vorkommende Vokabeln erklären. Einmal haben wir den Kindern auch die sieben Kontinente beigebracht, sowie einen Überblick über Asien gegeben, da wir feststellten, dass unsere Schüler nicht wussten, auf welchem Kontinent sie leben. Manchmal verstehen die Kinder uns aufgrund unseres deutschen englischen Akzentes auch nicht, sodass wir versuchen, sehr deutlich und langsam zu reden. Dass die indische Bevölkerung eine kollektivistische Gesellschaft ist, merkt man auch im Unterricht. Die wenigsten Schüler beantworten selbstständig eine gestellte Frage, trauen sich aber als Gruppe oder im Chor dann schon. Da die gesamte Schulbildung in Indien größtenteils auf Englisch ist, ist es besonders wichtig, den Kindern alltagstaugliches Englisch beizubringen. Die Schule fördert auch kreatives Arbeiten, sodass samstags „no schoolbag day“ ist. Ann-Kristin hat mit den Kindern zum Beispiel Origami-Kraniche gebastelt und Marie hat ihnen englische Lieder wie „Head, shoulders, knees and toes“ beigebracht.
Deutschunterricht:
Wir unterrichten ca. 40 Schüler*innen (19 Jahre aufwärts) täglich 90 Minuten. Die meisten von ihnen wollen ihren Master in Deutschland zu machen. Sie sind alle sehr ehrgeizig, lernen schnell und sind auch an der deutschen Kultur interessiert. Es ist für uns sehr interessant, unsere Sprache aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Wir haben uns schon mit ein paar unserer Deutschschüler angefreundet und uns mit ihnen außerhalb getroffen, wo uns die gläubigen Hindumädchen einen Hindutempel und die Stadt gezeigt haben.
YES.J.
65% des Hauses für die Bildung der Armen sind nach aktuellem Stand finanziert. Mit dem Bau soll im März begonnen werden und fertig ist es voraussichtlich nach 1-1/2 Jahren. Das Haus soll Übernachtungsmöglichkeiten und Raum für alle jetzigen YES.J –Projekte bereithalten. An einem Tag haben wir bei einer Youth-Empowering-Veranstaltung von YES.J. (Personal Enhancement Programm PEP) von Pater Bala teilgenommen, die sich an ältere Jugendliche richtete. Die Themen waren Selbstmotivation und Zielsetzung im Leben. Wir wurden gebeten, jeweils für ein paar Minuten von unseren eigenen Erfahrungen zu berichten, davon, was unsere Motivation war nach Indien zu kommen, wie wir uns selbst motivieren und auch, wie wir mit Misserfolg umgehen.
Für Ann-Kristin geht es nächste Woche dann leider schon wieder zurück nach Deutschland, Marie bleibt noch einen weiteren Monat. Wir werden schon jetzt andauernd gefragt, wann wir denn wieder nach Indien kommen würden. Wir haben auf jeden Fall viele einzigartige Erfahrungen gemacht und sind froh, die Möglichkeit bekommen zu haben, ein kulturell und gesellschaftlich so interessantes Land zu bereisen.