Predigtnachlese – Bettina Jarasch

Philosophische Predigt von Bettina Jarasch

Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.
Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.
Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. (Matthäus 10, 34-38)

Bettina Jarasch - Foto: Jasper Kortmann
Bettina Jarasch – Foto: Jasper Kortmann

Die Radikalität dieser Aussage treibt mich bis heute um. Jesus verlangt Entzweiungen. Er verlangt von uns, unsere Liebsten hinter uns zu lassen und ihm zu folgen, ohne uns noch einmal umzudrehen.

Wenn ich die Anforderung, die in diesen Sätzen steckt, ernsthaft an mich herankommen lasse, dann könnte ich heulen und alles in mir sträubt sich gegen diese Zumutung.

Klar: Es geht um Bindung und Freiheit. – Es gibt vieles, von dem wir uns binden lassen. Und Jesus fordert uns auf, diese Bindungen zu lösen, um frei zu sein. Frei ihm zu folgen. Wir sind gebunden von Konventionen, unseren eigenen Vorstellungen von dem, was wir im Leben erreichen wollen, von Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen.

Und klar: Gerade die Bindung an Vater und Mutter in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Jesus gelebt hat, bedeutet vor allem die Bindung an eine Gesellschaft und ihre Regeln, die Bindung an bestimmte Rollen, die im Leben für junge Männer wie Jesus vorgesehen waren, an Hierarchien und Machtsysteme, in die er hineingeboren wurde.

Solche Bindungen fordert Jesus uns auf zu lösen, hinter uns zu lassen. Denn sie hindern uns daran, auf Gottes Willen in uns zu horchen und ihm zu folgen. – Er selbst hat das schon als Zwölfjähriger mit einer fast schon unbarmherzigen Klarheit seinen Eltern klargemacht, als sie ihn nach drei Tagen, in denen er verschwunden war, im Tempel wiedergefunden hatten und ihn fragten, warum er sie einfach allein gelassen habe.

(Lukas 2,43) „Als seine Eltern ihn sahen, waren sie voll Staunen und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“

Das ist selbst nach heutigen Verhältnissen, wo Kinder eigene Rechte haben und Eltern sich eher als Partner ihrer Kinder verstehen, noch eine nahezu brutale Ansage.

Jesus Christus nachzufolgen, dem Wort Gottes zu folgen, bedeutet harte Entzweiung mit der bisherigen Lebenswelt, das hat auch der Prophet Jeremia in der Lesung, die wir vorhin gehört haben, erfahren müssen:

„Du hast mich betört, o Herr,
und ich ließ mich betören;
du hast mich gepackt und überwältigt.
Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag,
ein jeder verhöhnt mich.
Ja, sooft ich rede, muss ich schreien,
„Gewalt und Unterdrückung“ muss ich rufen.
Denn das Wort des Herrn
bringt mir den ganzen Tag nur Hohn und Spott.“

Mein Jesusbild ist ambivalent und das macht ihn zu einem Stachel in meinem Fleisch.

Natürlich ist er die frohe Botschaft, sein Leben ist voll tatkräftigen Mitgefühls, Menschenliebe, Gottesliebe. Er ist der, der alle annimmt und ernst nimmt. Gerade auch die, die in der damaligen Gesellschaft ausgestoßen waren. In diesem Sinne wertet er die Werte um und befreit, indem er die gesellschaftlichen Werte nicht unhinterfragt stehen lässt.

Mit diesem Jesus kann ich umgehen. Liebe als eine Kraft, die Grenzen überwindet: das ist eine frohe Botschaft, die mir keine Angst macht, sondern Hoffnung gibt.

Aber zugleich ist Jesus radikal. Er macht keine Kompromisse. Und er verhehlt seinen Jüngern auch nicht, was es bedeutet, ihm zu folgen, ihn zu lieben. Dass das eben nicht unbedingt weltliches Glück und Ruhm mit sich bringt, sondern Hohn und Spott – und Leiden.

Warum macht er das? Sicher: Er will, dass seine Jünger ihm nicht aus den falschen Gründen folgen. Vielleicht will er sie ja sogar vorwarnen.

Und er macht durch seine radikalen Ansagen klar, dass eine Hinwendung zu ihm, zu Jesus Christus nicht ohne Abkehr vom bisherigen Leben, nicht ohne echte Veränderung möglich ist. Und das ist der Stachel – sozusagen die wunde Stelle, die Jesus bei mir hinterlässt und die nicht einfach zuheilt. Denn zu wie viel Veränderung bin ich tatsächlich bereit? Und wird das, wozu ich bereit bin, je genug sein, um seinen Ansprüchen zu genügen? Kann ich ihn in diesem Sinne je genug lieben?

Schon der zwölfjährige Jesus stößt seine Eltern vor den Kopf in seiner Radikalität. Heute bezeichnen sich junge Menschen als „Letzte Generation“ und stoßen überall in Deutschland Menschen vor den Kopf, ja sie lösen viel blanke Wut aus mit ihren Aktionen, durch die sie auf die Notwendigkeit von Veränderungen angesichts des immer rascher fortschreitenden Klimawandels aufmerksam machen wollen.

Dieses Ziel teile ich. Ich kann gar nicht anders als es zu teilen, geht es doch um die eigentliche Gründungsaufgabe meiner Partei, diese Welt für die nächsten Generationen lebenswert zu erhalten – geht es doch um die Bewahrung der Schöpfung.

Aber dürfen die das auf diese radikale Weise tun? Darüber ist in den letzten Monaten heftig gestritten worden. Und jetzt stoße ich vermutlich auch hier einige Menschen vor den Kopf, wenn ich sage: Rechtlich ist es nicht legal, aber legitim, was die Letzte Generation tut. Es  verstösst gegen das Gesetz, ohne den Rechtstaat in Frage zu stellen, denn die Aktivist*innen nehmen die Strafe in Kauf, sie wollen ein Korrektiv des Rechtstaats sein und können sich immerhin auf Urteile des höchsten Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts, in Sachen Klimaschutz berufen. Das ist nicht kriminell, das ist ziviler Ungehorsam,

wie ihn auch all jene kirchlich Engagierten ausüben, wenn sie geflüchteten Menschen Kirchenasyl gewähren, obwohl die ausreisepflichtig sind.

Und dennoch halte ich die Aktionen der Letzten Generation für falsch, und zwar für falsch aus einer ethischen und spirituellen Perspektive. Denn die Radikalität der Letzten Generation hat einen anderen Kern als die Radikalität von Jesus Christus, und ist deshalb auch in ihrer Wirkung etwas fundamental Anderes.

Die Letzte Generation ist radikal aus Verzweiflung. Und mit dieser Verzweiflung wollen sie andere Menschen zum Handeln, zur Umkehr zwingen. Die Radikalität von Jesus Christus, so erschreckend sie für mich zuweilen ist, ist getrieben von Liebe. Sie will befreien, nicht zwingen. Und deshalb setzt sie auf die eigene Entscheidung, die Menschen treffen müssen, wenn sie ihm folgen wollen.

Ich glaube, es bedrückt in Wahrheit viele Menschen, dass ihr ganz normales Leben dazu beiträgt, die Lebenschancen der nächsten Generation auf diesem Planeten zu gefährden. Und es ist weder unsere Aufgabe als Christ*innen noch die Aufgabe von Politik, ihnen deshalb ein schlechtes Gewissen zu machen und den Druck auf diese Weise noch zu erhöhen. – Es ist vielmehr unsere Aufgabe, Menschen dabei zu unterstützen, das zu tun, was sie für wichtig und richtig halten. Als Mitmenschen je individuell – die Aufgabe von Politik ist es dagegen, den Rahmen richtig zu setzen. Aus beiden Perspektiven muss es darum gehen, den Druck wegzunehmen, indem wir Menschen ermöglichen, das zu tun, was sie selbst für das Richtige halten.

Radikalität kann also sehr verschiedene Treiber und auch sehr unterschiedliche Wirkungen haben. Dennoch bleibt Jesus Christus der Stachel in meinem Fleisch. Er lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Er bringt mich dazu, mich immer wieder in Frage zu stellen, die Motive meines Tuns zu hinterfragen. Mit ihm kann ich mich nie zufriedengeben mit dem, was ist und was ich bin. –

Aber den Stachel einfach herausziehen, um meine Ruhe zu haben, das geht erst recht nicht. Auch das hat der Prophet Jeremia erfahren. Obwohl sein Verkünden des Wort Gottes ihn dem Gespött der Leute ausliefert, und ihn zum Ausgestoßenen macht, kann er nicht anders als weiterzumachen. Denn ein Leben ohne diesen Stachel wäre unerträglich:

„Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken
und nicht mehr in seinem Namen sprechen!,
so brannte in meinem Herzen ein Feuer,
eingeschlossen in meinen Gebeinen.
Ich mühte mich, es auszuhalten,
vermochte es aber nicht.“

Amen