Liebe Gemeinde,
wir müssen über Gewalt sprechen. Das ist erst einmal keine frohe Botschaft. Aber die Gewalt ist ja ohnehin da. Wir sehen sie in den Nachrichten. Militärische Gewalt, staatliche Gewalt, Gewalt im Namen von Religionen. Wladimir Putin lässt die russische Armee in einem brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine ziehen, all das mit dem Segen von Patriarch Kyrill I., dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. In Iran wird die eigene Bevölkerung in ihrem Bestreben nach Freiheit niedergeprügelt, verhaftet, gefoltert oder gar ermordet. Und das geschieht im Namen der islamischen Republik, im Namen des Revolutionsführers Ali Chamenei, der zugleich das religiöse Oberhaupt des Iran ist. Auch in der Geschichte der Kirche gab es das immer wieder: die Religion wurde verzweckt für ethnische, nationalistische und imperialistische Machtansprüche und in ihrem Namen vernichtende Gewalt gegen Schwächere verübt.
„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ Gestern war ich in der Notaufnahme, in der Abteilung für die leichten Fälle, nachdem ich ein etwas unglückliches Zusammentreffen des Berliner Straßenpflasters mit meinem Knie hatte. Ich muss sagen, schon dort wünsche ich niemandem einen zweiten Schlag, nicht auf die linke Wange, nicht auf das linke Handgelenk, nicht auf die linke Herzkammer. Das ist natürlich auch nicht gemeint mit dieser Stelle aus dem Matthäus-Evangelium: dass wir unserem Nächsten oder auch Fernsten das doppelte und dreifache Leid wünschen. Und doch beschleicht mich seit einiger Zeit der Verdacht, als würden manche es unterschwellig doch anderen zumuten. Dann nämlich, wenn jemand von Gewaltverzicht spricht, dessen Folgen nicht er selbst, sondern eben die anderen tragen müssen.
Seit Februar hören wir das immer wieder: Menschen, die nichts, aber auch gar nichts unternehmen gegen die Gewalt des Aggressors, predigen den Angegriffenen Gewaltverzicht, und ja, sie erlegen ihn ihnen sogar auf. Denn wer mit einem Nudelholz vor einem Panzer steht, kann nicht auf Gewalt verzichen. Er hat schlicht keine. Den Gewaltverzicht haben andere für ihn entschieden.
Ist es wirklich das, was uns das Matthäus-Evangelium an dieser Stelle sagen will? In Matthäus 5, 38-39 heißt es: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet, dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“
Auge um Auge. Zahn um Zahn. Das klingt erst einmal martialisch. Dabei geht es hier gerade nicht darum, das Gewalt weiter eskaliert, sondern um die Grenzen, die das Recht ihr setzt. Die Spirale der Rache, der Gewalt und Gegengewalt soll durchbrochen werden. Wenn wir uns der Rachsucht hingeben, dann muss das, was wir erleiden, von unserem eigenen Empfinden her doppelt und dreifach zurückgegeben werden, damit es uns befriedigt und zumindest scheinbar innerlich befriedet. Denn die Schmerzen und die Schmach, die wir erleiden, wirkt für uns selbst immer größer als die Schmerzen der anderen. Wenn Ihnen jemand auf die Wange schlägt, dann sind Sie womöglich so gekränkt und wütend, dass es Ihnen nicht ausreicht, einen Schlag auf die Wange des anderen zu geben, Sie müssen ihm auch noch gegen das Knie treten.
Als das Recht die Rache ersetzte und eine Schuld mit einer Strafe beantwortet wurde, war das ein wichtiger Schritt weg von einer Vergeltung, die immer noch mehr schaden, ja zerstören will. Das Recht, das humanitäre Völkerrecht zum Beispiel, setzt Regeln, und bei Regelverstoß nennt es ein Strafmaß, das von einem nicht in den Streit verstrickten Dritten, einer möglichst objektiven, unparteiischen Instanz festgesetzt wird und das angemessen sein soll.
Jesus aber geht noch weiter, er hebt die Vergeltung gänzlich auf, indem er die Liebe an ihre Stelle setzt.
Sehen wir uns noch einmal genauer an, auf welche Handlung Jesus antwortet. Der Backenstreich war in der damaligen Zeit als Provokation durchaus verbreitet, vor allem auf die rechte Wange, da sie – bei Rechtshändern zumindest – mit dem Handrücken geschlagen wird. So bekannt war diese Provokation sogar, dass man die Höhe der Strafe noch kennt, die zu Jesu Zeiten darauf stand, nämlich 400 Schekel nach dem jüdischen Zivilrecht.
Was mir wichtig scheint: Es geht hier um eine Provokation, eine Geste der Demütigung, nicht aber um eine Geste der Auslöschung. Es ist ein Plädoyer für ein Ende der Vergeltung, nicht für das bedingungslose Erdulden erlittener Gewalt und schon gar nicht für das passive Zusehen, wenn Unrecht geschieht. Es soll uns sagen: lass dich nicht provozieren. Es sagt nicht: Lass dich ermorden. Und schon gar nicht: Sieh tatenlos dabei zu, wenn jemand anderes misshandelt und ermordet wird.
Auf Auslöschung ohne Gegenwehr, ja demütig zu reagieren – wir wissen aus der deutschen Geschichte, was das bedeutet hat für Millionen von Opfern.
Auf eine Provokation aber, auf eine Demütigung mit Gelassenheit, wenn Sie so wollen Demut zu reagieren, kann in der Tat die klarste Zurückweisung der Aggression sein. Es ist wohl auch die wahrscheinlichste Art, eine Eskalation zu verhindern.
In Demut, ebenso wie in Demütigung steckt auch das Wort Mut. Demut ist der Mut, die eigene Nichtigkeit zu erkennen. Das meint nicht Wertlosigkeit, sondern meine Kleinheit gegenüber der Größe Gottes. Indem wir das erkennen, begreifen wir auch, wie nichtig und klein die weltlichen Provokationen sind, die Backenstreiche und üblen Worte.
Demut ist eine innere Haltung. Das heißt, ich kann sie nur selbst einnehmen. Ich kann jemanden demütigen, aber ich kann ihn nicht zur Demut zwingen. So wenig, wie ich seine Wange hinhalten kann.
Ich denke auch an eine Szene, die mir immer wieder in den Sinn kommt, seit ich sie zum ersten Mal gelesen habe. Es geht um die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, die von Nelson Mandela und Desmond Tutu nach dem Ende der Apartheid eingeführt wurde, um die Spirale der Rache und Gewalt zu verhindern in dieser Gesellschaft, in der die einen den anderen über Jahrzehnte entwürdigt und misshandelt hatten. Die Szene taucht bei dem Historiker Timothy Garton Ash auf und auch der jüdische Philosoph Jacques Derrida greift sie auf in seinem Nachdenken über die Vergebung. Ash beobachtet eine Frau, deren Mann ermordet worden war. Vor der Kommission gefragt, ob sie vergeben könne, sagte sie:
„Keine Regierung kann vergeben. Stille. Keine Kommission kann vergeben. Stille. Und ich bin noch nicht bereit zu vergeben.“[i]
Und hier scheint mir Vergebung und Vergeltung sehr nah beieinander zu leigen. Auch die Hingabe an die mir widerfahrende Gewalt ist etwas, dass ich nur selbst für mich entscheiden kann. Keine Institution, kein Politiker, auch kein katholischer Würdenträger kann für mich entscheiden, wann der Moment ist, in dem ich meinem Schuldiger vergebe oder mich ihnen widerstandslos ergebe.
Das ist der erste Punkt, den ich machen will: Bei einem Angriff auf Gewalt zu verzichten kann ich nur für mich entscheiden. Wenn ich es für andere entscheide, ist dies nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung. Ich mag mich als Pazifisten anpreisen, aber ich mache mich mit dem Gewalttätigen, mit dem Bellizisten gemein.
„Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!“, heißt es im Matthäus-Evangelium weiter. Das ist die weniger bekannte Fortführung der Passage, mit der wir eingestiegen sind. Aber was hat es mit diesen Meilen auf sich?
Es ist jedenfalls nicht jemand, der mit ihnen noch einmal einen langen Coronaspaziergang durch den Tiergarten machen will, sondern es ist ein alleinreisender Fremder, der Angst hat, dass ihm etwas zustößt. Und dass ihm etwas zustoßen wird, wenn er so allein reist, das war damals so wahrscheinlich, dass es üblich war, den Reisenden ein Stück des Weges zu begleiten, um ihm Schutz zu gewähren.
Schutz, den brauchen wir bis heute manchmal. Es gibt im humanitären Völkerrecht die sogenannte Schutzverantwortung. Sie hat sich aus den Erfahrungen der 1990er Jahre heraus entwickelt, als in Ruanda und Srebrenica zwei Völkermorde unter den Augen der Weltöffentlichkeit geschahen und die westlichen Regierungen mehr oder weniger tatenlos zusehen. Und hier bin ich schon bei meinemzweiten Punkt. Kann Gewalt denn legitim sein? Oder zugespitzt gefragt, kann es sogar falsch sein, sie zu unterlassen?
Wir haben gerade das Schuldbekenntnis gesprochen. Dieses hat vor einem halben Jahrhundert eine scheinbar kleine Transformation erfahren. Hören wir noch einmal genau hin:
„Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen,
und allen Brüdern und Schwestern,
dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe.“
Nicht nur das Böses, das wir getan habe, sondern auch das Gute, das wir unterlassen habe, führen wir uns vor Augen, und das scheint mir eine gar nicht so kleine, sondern ganz erhebliche Veränderung des Verständnisses von Schuld zu sein.
„Mitunter war es notwendig, der brutalen systematischen Gewalt, die es sogar auf die völlige Ausrottung oder Versklavung ganzer Völker und Regionen abgesehen hatte, bewaffneten Widerstand zu leisten“, erklärte Papst Johannes Paul II mit Blick auf die Gräueltaten des 20. Jahrhunderts. Und weiter, mit Blick auf die Gegenwart, heißt es in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2000: „Wenn die Zivilbevölkerung Gefahr läuft, unter den Schlägen eines ungerechten Angreifers zu erliegen, und die Anstrengungen der Politik und die Mittel gewaltloser Verteidigung nichts fruchteten, ist es offensichtlich legitim und sogar geboten, sich mit konkreten Initiativen für die Entwaffnung des Aggressors einzusetzen.“[ii]
Gewalt zum Schutz von anderen scheint also unter gewissen Umständen legitim, ja sogar geboten zu sein. Doch ich möchte es Ihnen nicht zu leicht machen, ich möchte Ihnen heute kein sanftes Ruhekissen mitgeben, sondern ich wünsche mir, dass Sie die Gedanken noch in Ihrem Kopf bewegen, ehe Sie einschlafen.
Mir scheint hier der von Bonhoeffer geprägte Begriff der Schuldübernahme hilfreich. Bonhoeffer befand sich ja selbst in der scheinbar unauflösliche Zerrissenheit, in der sich ein gläubiger Christ und radikaler Pazifist in Anbetracht von tyrannischer Macht und den vernichtenden Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes befindet, einer Macht, eines Regimes, denen nicht mehr mit Demut, sondern nur noch durch Gewalt Einhalt geboten werden konnte.
Wie war es Bonhoeffer möglich, sich für den Tyrannenmord zu entscheiden? Es war ihm nicht einfach möglich, er wachte nicht eines Morgens auf und wusste sich auf der sicheren und somit einfachen Seite. Aber er erkannte, und er akzeptierte für sich, dass es Situationen gibt, in denen es keine richtigen, im Sinne von schuldfreien Handlungsoptionen gibt.
Einen Menschen umzubringen, das verstößt gegen das fünfte Gebot. Es geschieht nicht frei von Schuld, womöglich selbst dann nicht, wenn es sich um den schlimmsten Diktator und Mörder handelt. Aber hätte Bonhoeffer nichts getan, hätte er wie so viele weiter zugesehen oder auch weggesehen, wie die Nazis die Auslöschung von Millionen von Menschen vorantrieben, hätte er sich gewiss nicht weniger schuldig gemacht. Im Gegenteil.
Weder kann es um eine Verharmlosung von Gewalt gehen, noch um eine Banalisierung von Schuld, wenn wir über unser Handeln im Wissen um die Verbrechen anderer nachdenken. In Gewalt zu handeln, bleibt ein Dilemma. Uns das vor Augen zu führen, heißt nicht, dass wir nicht handeln können oder nicht handeln sollen. Wir können nur nicht so handeln, dass wir uns stets bequem auf der richtigen Seite wissen, mit moralischer Arroganz oder heroischer Selbstgefälligkeit. Wir müssen von uns selbst absehen, das ist mein dritter und letzter Punkt, und stattdessen abwägen, was unsere Handlung für andere Menschen, auch für jene, die nach uns kommen, bedeutet. Uns eben dieser Zumutung bewusst zu sein, es uns nicht bequem zu machen in einer moralischen Wohlfeilheit, sondern im besten Fall selbstlos zu handeln, das scheint mir der Mut und auch die Demut zu sein, die wir hier und heute brauchen.
[i] Vgl. Jascques Derrida: La Solidarité des Vivantes et le Pardon. S. 98. Übersetzung NB
[ii] https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/messages/peace/documents/hf_jp-ii_mes_08121999_xxxiii-world-day-for-peace.html