Zurzeit hören wir in den Lesungen der Werktage aufeinanderfolgende Abschnitte aus dem Hebräerbrief. Ein Thema, das diesen Brief wie einen roten Faden durchzieht, ist das Thema des Opfers. Christus – so lesen wir – sei unser Hohepriester, der sich selbst für uns Gott als Opfer dargebracht habe.
Die Gedanken, die der Hebräerbrief äußert, dürften den meisten von uns fremd sein. Wenn wir heute in unserem Kulturkreis das Wort „Opfer“ verwenden, dann denken wir z.B. an Verkehrsopfer. Opfer sind für uns Menschen, denen ein verhängnisvolles Unglück zugestoßen ist oder denen furchtbares Unrecht angetan wurde. In der Regel verbinden wir das Wort „Opfer“ mit Unschuldigen, deren Leid wir als Skandal ansehen und denen gegenüber wir eine Verpflichtung zu Mitgefühl und Hilfsbereitschaft verspüren.
Der Gekreuzigte – so würden wir sagen – ist zweifellos ein Opfer: ein Unschuldiger, an dem ein grausamer Justizmord begangen wurde. Aber dass Jesus in diesem Sinne zu einem Opfer wird ist das krasse Gegenteil von etwas Heiligem oder Gott Wohlgefälligem. Eine Welt, die solch ein Opfer hervorbringt, dient nicht Gott, sondern widerspricht ganz fundamental dem göttlichen Willen.
Wie also sollen wir dann das Opfer Jesu verstehen? Etwa in dem Sinne, dass hier eine zornige Gottheit besänftigt und gnädig gestimmt werden soll, indem für sie Blut fließt? Was für ein abstoßender Gedanke ist das denn!
Das Wort „Opfer“ ist tatsächlich schwierig, weil es viel Ballast mit sich trägt. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die jüdischen Intellektuellen Franz Rosenzweig und Martin Buber in ihrer Übersetzung der Heiligen Schriften Israels den missverständlichen Begriff „Opfer“ konsequent vermeiden. Sie verweisen darauf, dass das betreffende hebräische Wort eigentlich so etwas bedeutet wie: „das, was zwei Seiten einander näherbringt“. Die Betonung liegt also nicht darauf, eine emotional aufgewühlte Gottheit umzustimmen und Gottes Gemütszustand zu verändern. Vielmehr geht es darum, eine zerbrochene Beziehung zwischen Gott und Mensch wiederherzustellen.
Als Folge erfinden Buber und Rosenzweig für den fraglichen hebräischen Begriff die neue Wortschöpfung „Darnahung“ – eine künstliche Zusammensetzung aus den Wörtern „darbringen“ und „nahebringen“.
Die „Darnahung“ hat mit dem Bringen von Gaben und Geschenken zu tun. Nun haben Geschenke nicht nur einen materiellen, sondern auch einen sozialen Wert. Sie sind Mittel zur Kontaktaufnahme. Ich besuche beispielsweise zum ersten Mal das Haus einer mir fremden Familie. Ich bringe Blumen mit, die ich zur Begrüßung überreiche. So breche ich beim Eintreten das Eis und eröffne die Begegnung. Gaben dienen außerdem der Beziehungspflege. So gebe ich einer befreundeten Person im Lokal ein Getränk aus als Geste der Verbundenheit und des Wohlwollens.
Geschenke helfen schließlich, verstopfte Kommunikationskanäle neu zu öffnen. So kann eine Einladung zu einem gemeinsamen Essen zwei Menschen Gelegenheit geben, nach langem Schweigen wieder neu miteinander ins Gespräch zu kommen.
Die Rede vom Opfer Jesu meint, dass Jesu ganze Person und sein ganzes Leben ein Geschenk sind, das Nähe schafft zwischen Gott und den Menschen. Dabei gibt es eine doppelte Bewegungsrichtung: von uns Menschen zu Gott und von Gott zu uns Menschen:
Einerseits ist Jesu Dasein eine Gabe an Gott, die uns Menschen näher zu Gott bringt. Der Mensch Jesus gibt sich Gott völlig hin. Alles was er sagt und tut, was er denkt und fühlt, steht im Dienst für Gott zur Erfüllung des göttlichen Willens. Gewissermaßen jeder Atemzug Jesu ist ein Ausdruck von Anbetung, Lob und Dank, welchen er Gott als Geschenk überreicht.
Da nun Jesus für uns vor Gott steht, darf seine Hingabe an Gott zugleich als unser Geschenk an Gott gelten. Jesu Hingabe an Gott darf uns vor Gott mitgehören, weil Jesus Gott dieses Geschenk in unser aller Namen überreicht.
Andererseits ist Jesus ein Geschenk, das Gott uns macht, um näher zu uns zu kommen. Der Vater hält uns den Sohn hin als Verkörperung göttlicher Liebe und göttlichen Erbarmens. So will Gott die gestörte Beziehung zu uns wiederherstellen. Von unserer Seite her kommt es nun darauf an, dass wir Jesus als Versöhnungsgabe Gottes dankbar annehmen.
Zu sagen, dass Jesus unser Hohepriester vor Gott sei, der sich als Opfer dargebracht habe, ist demnach eine bildhafte Umschreibung für die Mittlerfunktion Jesu. Jesus ist eine Tür, durch die ein- und ausgegangen wird (vgl. Joh 10,9), d.h. eine beständige Schnittstelle zwischen Himmel und Erde. Durch ihn kommen Gott und Menschen einander nahe, beschenken und begegnen sich.
Wenn wir bei der Heiligen Messe das Opfer Jesu feiern, legen wir Brot und Wein auf den Altar. Es sind unsere Gaben, die wir vor Gott bringen. Bei der Kommunion empfangen wir sie zurück – nun als Gaben Gottes an uns, als Zeichen dafür, wie nahe Gott uns ist. Staunen wir über das Geschenk, das Gott für uns bereithält!
Jan Korditschke SJ